Das Jahr auf dem Lande
hat endlich zu sich selbst gefunden.«
Und Adrian auch, dachte Lester. Seine Haltung ruhiger Überlegenheit glich der Victoria Holdens und erwies sich als sehr nützlich.
Der einzige Mensch, dem diese Überlegenheit auf die Nerven ging, war Adrians Tochter. Sie stieg nun aus dem Wagen und gesellte sich zu ihrem Vater und Lester. »Tag für Tag muß ich in der verdammten Karre sitzen, während Adrian den Helden mimt. Jetzt habe ich genug davon. Wenn Mrs. Holden und Adrian die Bazillen abwimmeln können, dann kann ich das auch. Ich bin stark wie ein Pferd. Ich gehe jetzt in dieses Haus, jeder Protest ist zwecklos, Adrian. Du würdest mit deinem Gezeter nur die Kranken stören.«
Es blieb Adrian nichts anderes übrig, als sich zu fügen, denn Lester schlug sich auf Jos Seite, und nun bildeten sie alle drei ein gut funktionierendes Team. Jo fuhr ihren Vater, nahm die Autoketten ab, die Robert vor dem Haus angelegt hatte, half ihrer Mutter, Riesenmengen von Suppe und Eiermilch zuzubereiten. Damit gab sie sich jedoch nicht zufrieden, sie ging auch in die Häuser der Kranken, wechselte das Bettzeug, nahm die Schmutzwäsche mit nach Hause, um sie in die Waschmaschine zu stecken, gab schreienden Babys ihre Fläschchen, half überall, wo sie nur konnte. »Und dabei sieht sie so arrogant aus«, sagte eine Frau zu ihrem Mann, der wahrheitsgemäß, aber taktlos erwiderte, Jo wirke nur so arrogant, weil sie so ungewöhnlich schön sei.
Aber wenn sie auch in manchen Frauen eine gewisse Eifersucht weckte, so mochten sie doch alle, und Adrian liebten sie. Lester kannten sie mehr oder weniger sein Leben lang und akzeptierten ihn als einen der Ihren. In diesen Kreis wurde nun auch die Familie Medway aufgenommen, und das Ergebnis war ausgezeichnete Teamarbeit. Lester bewunderte immer wieder Jos Tüchtigkeit, ihre Freundlichkeit, und er suchte vergebens nach dem Hochmut, der ihn zuerst so abgestoßen hatte. Und als er zusah, wie sie das Baby einer kranken Mutter badete, erkannte er, daß er sie liebte. Ich wette, das ist das erstemal, daß sich ein Bursche in ein Mädchen verliebt, während es ein fremdes Baby badet, dachte er grimmig.
Und was empfand Jo? Als Christine ihren Mann auszufragen versuchte, erwiderte er vage: »Oh, sie kommen ganz gut miteinander aus. Sie streiten sich nie, und heute haben sie zusammen gelacht, als sie ein Bett frisch bezogen.« Das war nicht ganz das, was Christine hören wollte, aber sie stellte keine Fragen mehr. Sie hatte sich noch nie in das Privatleben ihrer Kinder eingemischt, und sie würde es auch jetzt nicht tun.
Aber sie erriet ganz richtig, daß sich Jo Gedanken über die Situation machte. Würde diese Beziehung genauso enden wie die vielen anderen, die das Leben des Mädchens kompliziert und seine Gefühlswelt ein wenig verhärtet hatten? Christine hoffte, daß es diesmal anders sein würde, aber sie behielt ihre Gedanken und Ängste für sich.
Jo war wie immer völlig ehrlich zu sich selbst. Und als sie eines Abends im Bett lag, sehr müde nach einem anstrengenden Tag, sagte sie sich, daß Lester der Mann war, nach dem sie so lange gesucht hatte. Schon vor langer Zeit hatte sie ihm erzählt, daß sie ihm den Spitznamen »Seine Lordschaft« gegeben hatte, und seine Antwort hatte sie beschämt. »Ein schöner Lord! Der Herr einer unrentablen Farm und eines großen leeren Hauses.« Sie hatte viel über ihn erfahren seit jenem Tag, als sie in die Stadt zu Beths Hochzeit gefahren waren. Und während er seine Liebe zu ihr erkannte, als sie ein Baby badete, entdeckte sie, daß er der Mann ihrer Träume war, als er einem häßlichen alten Mann mit einer wahren Engelsgeduld Suppe einflößte. Das war kein sehr romantischer Anfang, doch die Zukunft war vielversprechend.
Aber was für eine Zukunft? Das war das Problem. Sie würde ihn nächste Woche heiraten, wenn sie zusammen weggehen könnten, an irgendeinen friedlichen Ort. Aber wie sollte sie ein Leben in Rangimarie ertragen, in Onkel James’ Nachbarschaft, unter den wachsamen Augen der alten Mrs. Holden mit ihren viktorianischen Prinzipien? Der Gedanke an diese Atmosphäre drohte Jo zu ersticken. Würde Lester sie genug lieben, um Rangimarie und seinen falschen Wertmaßstäben den Rücken zu kehren?
9
D ie Grippewelle überflutete gnadenlos das Dorf und die umliegenden Farmen. Der Doktor kam ein paarmal heraus, wenn er sich von seinen vielen Patienten in Avesville losreißen konnte, verschrieb Antibiotika, sprach von Diät,
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