Das Jahr auf dem Lande
daß ihre Tochter nicht nur eine Beule, sondern eine bedenkliche Gehirnerschütterung abbekommen hatte.
Aber sie erzählte es niemandem, und wie es in der Familie Medway üblich war, wurden auch keine Fragen gestellt. Jo schilderte ihren Sturz, machte Sheikh bittere Vorwürfe und zeigte mit perversem Stolz ihre Beule vor. Mehr brauchten sie nicht zu wissen.
Und so verging ein Tag nach dem anderen, und scheinbar hatte sich nichts geändert. Adrian kehrte zu seinem ersten Roman zurück und fertigte das endgültige Manuskript an. Christine sorgte für ihre Familie und für das Haus, und Jo verbrachte einen Großteil ihrer Zeit bei Robert und den Lämmern und war ihm eine wertvolle Hilfe.
»Eigentlich müßte ich ihr ein Gehalt zahlen«, sagte er eines Tages zu Lester, und Jo lächelte geschmeichelt.
»Ich wette, daß keine der hübschen jungen Damen von Rangimarie jemals ein Lamm zwischen den Fingern hatte«, meinte sie. »Oder kannst du dir vorstellen, daß eine von diesen Treibhauspflanzen jemals einem Mutterschaf beim Lammen helfen würde?«
»In dieser Beziehung könntest du von Beth noch einiges lernen«, entgegnete Lester boshaft.
»Beth? Aber sie hat doch niemals draußen auf der Farm gearbeitet.«
»Im Gegenteil, als im letzten Jahr die Lämmer auf die Welt kamen, war sie fast Tag und Nacht draußen, sehr zu Onkel James’ Mißvergnügen. Er wollte nicht, daß sich seine Tochter mit so >vulgären Dingen< abgab. Aber sie erklärte, wenn sie schon nicht Krankenschwester werden könne, wolle sie wenigstens ein paar Mutterschafen als Hebamme dienen. Tante Cynthia stellte sich auf Beths Seite, und Onkel James gab nach. Sie war schon als Kind immer mit dem alten schottischen Schafhirten, der jahrelang bei den Holdens gearbeitet hat, draußen auf der Weide. >Mac wird auf sie aufpassen<, sagte mein Onkel. Das hat Mac wohl auch getan, aber er hat ihr auch eine Menge beigebracht, und sie ist ein brauchbarer kleiner Schafhirte geworden. Geh doch einmal zu ihr, Jo, sie könnte dir viel erzählen.«
Lester ging ihr natürlich absichtlich auf die Nerven, das wußte sie. Es gehörte zu Jos Lebenszielen, stets etwas Überraschendes, Unerwartetes zu tun, zum Beispiel Schafe zu hüten. Es paßte ihr ganz und gar nicht, daß ein kleiner Schwächling wie Beth das schon vor ihr getan hatte. Lester lächelte, und Robert lachte schallend. Die beiden jungen Männer waren gute Freunde geworden. Sie hatten dieselben Probleme, waren beide Farmer mit Leib und Seele, und beide mußten sich mit unrentablen Unternehmen herumschlagen. Lester wußte über die lokalen und klimatischen Bedingungen besser Bescheid, und seine Farm würde wohl eher Erfolge erzielen als »Gipfelkreuz«. Aber sie konnten ihre gemeinsamen Schwierigkeiten besprechen und einander in Krisensituationen helfen.
Das bedeutete, daß Lester auch sehr oft mit Roberts Schwester zusammenkam. Manchmal fragte er sich seufzend, was für Fortschritte er eigentlich mache. Aber er konnte diese Frage nicht beantworten. Das Mädchen war so schlüpfrig und glatt wie ein Aal. Manchmal schien er ihr sehr nahe zu sein, freute sich an gemeinsamen Interessen, freute sich über ihr Verständnis. Und dann war sie wieder das hochmütige Stadtmädchen. Ja, sie war wie ein Aal. Da glaubte man, daß man sie endlich eingefangen hatte, und im nächsten Augenblick war sie einem schon wieder entwischt. Er lächelte, als er dachte, daß dieser Vergleich nicht sehr attraktiv war. Eines Tages würden sie beide darüber lachen, denn Lester zweifelte nicht an seinem Endsieg. Jo wäre wütend gewesen, wenn sie das gewußt hätte.
Christine spielte die Rolle der stillen Beobachterin. Wenn sie vermutete, daß Lester ihrer Tochter bereits einen Antrag gemacht hatte und abgewiesen worden war, ließ sie nichts davon verlauten. Vor allem ihrem Mann gegenüber bewahrte sie Stillschweigen. Adrian wäre gerade in der richtigen Stimmung gewesen, um sich mit großem und sehr schädlichem Enthusiasmus auf Lesters Seite zu schlagen.
Diese Gefahr war um so größer, als sich Adrian plötzlich zu langweilen begann und jede Abwechslung freudig begrüßt hätte. Inzwischen war auch der letzte Grippepatient genesen, und er hatte seine Rolle als populärer Dorfheld allmählich satt. Denn diese Rolle brachte es mit sich, daß andauernd Leute zu ihm kamen, die seine Bücher gekauft hatten und sich Widmungen hineinschreiben lassen wollten. Aber was noch schlimmer war, diese Leute wollten auch mit ihm über seine Romane
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