Das Jahr der Flut
dass mein Leben richtungslos sei und dass ich mich im Innern taub fühlte, wie ein Waisenkind. Sie sagte, das alles müsse sehr verstörend sein; sie habe in meinem Alter auch eine schwere Zeit durchlebt, und mit ihrem Vater sei etwas Ähnliches passiert.
Diese neue Toby war nicht halb so abgebrüht wie damals, als sie noch Eva Sechs war. Sie war sanfter. Vielleicht war ich aber auch nur älter geworden.
Sie sah sich um und senkte die Stimme. Dann sagte sie, dass sie den Dachgarten Eden überstürzt hatte verlassen und ein paar Veränderungen hatte vornehmen lassen müssen, weil sie in Gefahr gewesen sei, ich müsse also immer wachsam sein und bloß niemandem erzählen, wer sie war. Sie sei ein Risiko mit mir eingegangen und hoffe, sie könne mir vertrauen, und ich sagte, das könne sie. Dann warnte sie mich, dass Lucerne manchmal ins Spa komme und dass ich gut aufpassen sollte, um ihr nicht in die Quere zu kommen.
Schließlich sagte sie, wenn irgendetwas sein sollte − irgendeine Notsituation − und sie nicht hier wäre, sollte ich wissen, dass sie einen Ararat zusammengestellt habe, mit Trockennahrung wie bei den Gärtnern, und zwar direkt im Vorratsraum des AnuYu; sie nannte mir den Türcode, falls ich irgendwann mal hineinmüsste. Obwohl sie nur hoffen konnte, dass es niemals nötig sein würde.
Ich dankte ihr sehr und fragte sie nach Amanda. Ich würde sie wirklich gerne wiedersehen, sagte ich. Im Grunde war sie meine einzige wahre Freundin. Toby sagte, sie würde versuchen, etwas rauszufinden.
Wir unterhielten uns nicht oft danach − Toby meinte, es würde Verdacht erregen, auch wenn sie nicht wüsste, wer uns hätte beobachten sollen −, aber wir wechselten immer nur ein paar Worte und nickten uns zu. Ich hatte das Gefühl, von ihr beschützt zu werden − von einer Art Außerirdischenkraftfeld umgeben zu sein. Aber das war natürlich nur ausgedacht.
*
Nachdem ich ein knappes Jahr dort war, sagte Toby eines Tages, dass sie Amanda durch eine gemeinsame Bekanntschaft im Internet gefunden hätte. Was sie mir erzählte, war überraschend, aber so überraschend dann auch wieder nicht, wenn man genau darüber nachdachte. Amanda war Biokünstlerin geworden: Sie machte Kunst aus Tieren oder Tierstücken, die in großem Maßstab im Freien angeordnet wurden. Sie wohnte in der Nähe des Westeingangs zum Heritage Park, und wenn ich sie sehen wollte, würde mir Toby einen Pass organisieren und mich in einem der rosa AnuYu-Kleinlieferwagen hinfahren lassen.
Ich fiel Toby um den Hals und drückte sie, aber sie bat mich um Zurückhaltung − ein Wäschemädchen, das der Chefin um den Hals fällt! Dann sagte sie, ich solle mich nicht zu sehr auf Amanda einlassen: Amanda neige dazu, den Bogen zu überspannen, sie würde ihre Grenzen nicht kennen. Ich wollte sie fragen, was sie damit meinte, aber da war sie schon wieder gegangen.
*
Am Tag des Besuchs sagte Toby, dass Amanda auf mein Kommen vorbereitet sei; dass wir beide aber warten sollten, bis ich durch die Tür wäre, bevor wir uns kreischend in die Arme fielen oder sonst wie zur Schau stellten. Sie drückte mir einen Korb mit AnuYu-Bestellprodukten in die Hand, falls wir angehalten wurden und jemand nach meinem Ziel fragte. Der Fahrer würde auf mich warten: Ich hätte nur eine Stunde Zeit, denn es sähe komisch aus, wenn sich ein AnuYu-Mädchen allzu lange in der Außenhölle herumtrieb.
Ich schlug vor, mich zu verkleiden, aber das lehnte sie ab, die Wachleute könnten stutzig werden. Also musste ich meinen rosa AnuYu-UV-Mantel über Arbeitskittel und Baumwollhose ziehen und mit meinem rosa Körbchen losziehen wie ein rosafarbenes Rotkäppchen.
*
Wie geplant, wurde ich von dem AnuYu-Kleinlieferwagen vor Amandas verfallenem Wohnhaus abgeliefert. Ich hielt mich an Tobys Anweisungen und wartete, bis ich durch die Tür war, wo Amanda mich erwartete, und dann sagten wir beide: »Ich glaub’s ja nicht!« und nahmen uns in die Arme. Aber nicht lange; Amanda hatte nie gern Leute umarmt.
Sie war größer als bei unserer letzten Begegnung. Sie war − trotz Sonnencreme und Sonnenhut − braun geworden von der vielen Arbeit im Freien, sagte sie. Wir gingen in ihre Küche, wo viele ihrer Entwürfe an den Wänden hingen und hier und da ein paar Knochen; und wir tranken beide ein Bier. Ich hatte noch nie so gerne Alkohol getrunken, aber das hier war ein besonderer Anlass.
Wir fingen an, uns über die Gärtner zu unterhalten − über Adam Eins, Nuala, Mugi den Muskel,
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