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Das Jahr der Flut

Das Jahr der Flut

Titel: Das Jahr der Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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tut mir leid«, sagte ich. »Bist du jetzt sauer auf ihn?« Ich gab mir alle Mühe, nicht allzu glücklich zu klingen. Jetzt kann ich ihr vergeben, dachte ich. Aber eigentlich war da gar nichts zu vergeben, weil sie mir ja nicht mit Absicht wehgetan hatte.
    »Sauer?«, fragte sie. »Auf Jimmy kann man nicht sauer sein.« Ich fragte mich, was sie wohl damit meinte, denn ich war ganz bestimmt sauer auf Jimmy. Obwohl ich ihn immer noch liebte.
    Vielleicht ist das Liebe, dachte ich, auf jemanden sauer zu sein.
    *
    Nach einiger Zeit fing Glenn an, regelmäßig ins Scales zu kommen − nicht jeden Abend, aber oft genug, um Vergünstigungen zu bekommen. Seit HelthWyzer hatte ich ihn nicht mehr gesehen − er hatte ja mit den ganzen anderen Supercheckern am Watson-Crick Institute irgendwas Naturwissenschaftliches studiert −, aber jetzt war er jemand Wichtiges beim ReJuv-Konzern. Er gab ziemlich damit an, wobei das Angeben bei Glenn immer eher wie eine Feststellung klang, so wie: »Heute gibt es noch Regen.« Was ich so beim Mithören der Gespräche mit den anderen superwichtigen Leuten und seinen Sponsoren aufschnappte, war, dass er für eine total wichtige Initiative namens Paradies-Projekt zuständig war. Dafür war extra ein vierfach gesichertes Kuppelgebäude mit eigener Luftversorgung gebaut worden. Er hatte ein Team der klügsten Köpfe weltweit zusammengestellt, und sie waren Tag und Nacht an der Arbeit.
    Glenn äußerte sich nur vage über das, woran gearbeitet wurde. »Unsterblichkeit« war ein beliebtes Wort − ReJuv war schon seit Jahrzehnten an dieser Sache dran, nämlich die menschlichen Zellen irgendwie so zu verändern, dass man nie sterben musste; um unsterblich zu sein, wären die Leute bereit, sehr viel Geld auszugeben, sagte er. Alle paar Monate verkündete er einen Durchbruch, und je mehr Durchbrüche er schaffte, desto mehr Geld konnte er für das Paradies-Projekt beschaffen.
    Hin und wieder behauptete er, an einer Lösung des größten Problems überhaupt zu arbeiten, nämlich der Menschheit − ihrer Brutalität und ihrer Seelenqualen, ihrer Kriege und ihrer Armut, ihrer Angst vor dem Tod. »Wie viel würden Sie zahlen für den Bauplan des perfekten Menschen?«, fragte er dann. Danach deutete er an, dass das Paradies-Projekt gerade im Begriff sei, diesen Bauplan zu entwerfen, und er wurde mit noch mehr Geld überhäuft.
    Zum Abschluss dieser Besprechungen buchte er den Raum mit den Federn an der Decke und bestellte Drinks und Drogen und Mädchen aufs Zimmer − nicht für sich selbst, sondern für die Jungs, die er dabeihatte. Superwichtige CorpSeCorps-Leute zum Beispiel. Das waren schon finstere Typen. Mit Painballern hatte ich mich nie abgeben müssen, aber mit CorpSeCorps-Männern schon, und das waren die Kunden, die ich am wenigsten mochte. Die kamen einem immer vor wie halbe Roboter.
    Ab und zu buchte Glenn für den ganzen Abend zwei oder drei Mädchen, nicht für Sex, sondern für ganz seltsame Sachen. Einmal wollte er, dass wir schnurren wie Katzen, weil er unsere Stimmbänder messen wollte. Ein anderes Mal mussten wir zwitschern wie Vögel, und er nahm uns dabei auf. Starlite beschwerte sich bei Mordis, dass wir für so was doch eigentlich nicht bezahlt würden, aber Mordis sagte nur: »Na und, ist halt ein Verrückter. Ist doch nichts Neues. Aber ein Verrückter mit Geld, also haltet ihn bei Laune.«
    An einem Abend gehörte ich zu der Dreiergruppe, mit der er eine Art Quiz veranstaltete. Was uns glücklich machen würde, wollte er wissen. War Glück eher etwas wie Aufregung oder eher etwas wie Zufriedenheit? War Glück etwas, was eher von innen oder eher von außen kam? Spielten Bäume dabei eine Rolle oder nicht? Musste fließendes Gewässer in der Nähe sein? Wurde zu viel davon irgendwann langweilig? Starlite und Feuerblüte versuchten rauszufinden, was er hören wollte, um richtig lügen zu können. »Nein«, sagte ich. Ich wusste, wie Glenn tickte. »Der spinnt. Der will unsere ehrliche Meinung wissen.« Da waren sie total verwirrt.
    Zum Thema Traurigkeit hatte er keine Fragen. Vielleicht glaubte er, darüber schon genug zu wissen.
    *
    Dann brachte er immer öfter eine Frau mit − vom Körperbau her Asian Fusion, aber mit ausländischem Akzent. Er sagte, sie wolle das Scales ein bisschen kennenlernen, weil ReJuv unseren Laden zu einer ihrer wichtigsten Testlokalitäten auserkoren habe, und sie würde uns ein neues Produkt erklären − die OrgassPluss-Pille, die alle bekannten

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