Das Jahr der Flut
erdrosselt.
»Siehst du dieses Herz?«, sagte Blanco. Er zeigte auf seine Tätowierung. »Ich liebe dich, heißt das. Und du liebst mich jetzt auch. Richtig?«
Mühsam nickte Toby.
»Kluges Mädchen«, sagte Blanco. »Komm her. Zieh mir das Hemd aus.«
Die Rückentätowierung war genau so, wie Rebecca sie beschrieben hatte: eine nackte, in Ketten gewickelte Frau, deren Kopf nicht zu sehen war. Lange Haare wie züngelnde Flammen.
Mit seinen gehäuteten Händen packte Blanco sie am Hals. »Wenn du dich wehrst, zerknick ich dich wie einen Zweig«, sagte er.
9.
Seitdem ihre Familie auf so traurige Weise ums Leben gekommen war, seitdem sie selbst von der offiziellen Bildfläche verschwunden war, hatte Toby alles getan, um nicht mehr an ihr früheres Leben zu denken. Sie hatte es auf Eis gelegt, eingefroren. Jetzt sehnte sie sich verzweifelt nach der Vergangenheit − mitsamt den schlimmen Zeiten, mitsamt dem Kummer −, denn ihr jetziges Leben war die reinste Tortur. Sie versuchte sich vorzustellen, dass ihre längst verblichenen Eltern wie Schutzgeister über sie wachten, aber alles, was sie sehen konnte, war Nebel.
Seit knapp zwei Wochen war sie Blancos Ein und Alles, aber es waren gefühlte Jahre. Seiner Ansicht nach konnte sich eine Frau mit einem so kleinen Arsch wie Toby glücklich schätzen, wenn sich überhaupt einer fand, der ihr das Loch stopfte. Noch glücklicher konnte sie sein, dass er sie nicht als Zeitarbeiter ans Scales verkaufte, womit ihre Tage gezählt wären. Sie sollte verdammt dankbar sein. Noch besser, sie sollte ihm danken: Nach jedem degradierenden Akt verlangte er ihren Dank. Lust sollte bei ihr nicht aufkommen: nur Gehorsamkeit.
Er gönnte ihr keine Pausen. Er verlangte während der Mittagspause nach ihren Diensten − die ganze halbe Stunde; Mittagessen konnte sie also streichen.
Jeden Tag war sie hungriger und erschöpfter. Sie hatte inzwischen Blutergüsse genau wie die arme Dora. Langsam nahm die Verzweiflung überhand: Sie sah, wohin das alles führte, und es sah nach einem dunklen Tunnel aus. Bald wäre nichts mehr von ihr übrig.
Schlimmer noch, Rebecca war gegangen, wohin, wusste keiner. Es ging das Gerücht, sie habe sich irgendeiner religiösen Gruppe angeschlossen. Blanco war es egal, denn Rebecca hatte nie zu seinem Harem gehört. Ihre Stelle bei GeheimBurger wurde schnell neu besetzt.
*
Toby hatte die Morgenschicht, als sich auf der Straße ein seltsamer Aufmarsch näherte. Schilder und Gesang deuteten auf etwas Religiöses, wobei es keine Sekte war, die sie schon mal irgendwo gesehen hätte.
Allerhand religiöse Randgruppen waren in Sewage Lagoon unterwegs, um gequälte Seelen zu fangen. Die Gebotenen Früchte, die Petrobaptisten und die anderen Reiche-Leute-Religionen hielten sich fern, aber ein paar zerlumpte Heilsarmee-Kapellen zogen immer durch die Gegend, keuchend unter dem Gewicht ihrer Trommeln und Jagdhörner. Eine Handvoll Reineherzen-Sufis wirbelten gelegentlich im Turban vorbei oder die schwarz gewandeten Heiligen des Höchsten oder ein Haufen safrangelb gekleideter bimmelnder und singender Hare Krishnas, die von den Schaulustigen mit Hohnrufen und verfaultem Gemüse quittiert wurden. Die Löwen-Jesajaisten und die Wolf-Jesajaisten predigten an den Straßenecken und prügelten sich, wenn sie aufeinanderstießen: Sie waren sich uneins, ob es nun der Löwe oder der Wolf sei, der nach der Ankunft des Friedensreichs beim Lamm liegen würde. Bei den Raufereien stürzten sich die Plebsrattengangs − die braunen Tex-Mex, die bleichen Lintheads, die gelben Asian Fusions und die Blackened Redfish − auf alle, die am Boden lagen, und durchwühlten deren Kittel nach Wertvollem oder auch nur Davontragbarem.
Der Aufmarsch kam näher, und Toby konnte mehr erkennen. Der Anführer hatte einen Bart und trug einen Kaftan, der aussah wie von bekifften Elfen geschneidert. Dahinter kamen allerlei Kinder − große und kleine, in allen Farben, aber alle in dunkler Kleidung − mit beschrifteten Schiefertafeln in der Hand:
Gottes
gärtner für Gottes Garten! Der Tod geht NICHT durch den Magen! Wir ALLE sind Tiere!
Sie sahen aus wie zerlumpte Engel oder zwergenwüchsige Stadtstreicher. Sie waren das also gewesen mit dem Gesang.
Kein Fleisch! Kein Fleisch! Kein Fleisch!,
skandierten sie jetzt. Toby hatte von dieser Sekte gehört: Es hieß, sie hätten irgendwo einen Garten auf einem Dach. Ein trockenes Stück Lehm, drei verschrumpelte Ringelblumen, eine traurige Reihe
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