Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Jahr der Flut

Das Jahr der Flut

Titel: Das Jahr der Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
Vom Netzwerk:
zwischen den Blumen liegen. Praktisch, aber schlechtes Karma.
    Sie zieht das schmiedeeiserne Tor hinter sich und Ren zu; das elektronische Schloss ist defekt, notdürftig bindet sie es mit einem Stück ihres Seils zu. Sollten die Schweine sie verfolgen wollen, wird das Tor sie zwar nicht aufhalten – sie können sich jederzeit darunter durchgraben −, aber wenigstens ausbremsen.
    Jetzt haben sie und Ren das AnuYu-Gelände verlassen und folgen der unkrautgesäumten Straße durch den Heritage Park. Sie kommen an ein paar Stellen mit Picknicktischen vorbei; der Kudzu hat Mülltonnen und Grillplätze, Tische und Bänke überwuchert. In der Sonne, die von Minute zu Minute heißer wird, wehen und wirbeln Schmetterlinge durch die Luft.
    Toby orientiert sich; bergab, nach Osten hin, muss die Küste liegen, und dann kommt das Meer. Im Südwesten liegt das Arboretum mit dem See, auf dem die Gärtnerkinder früher ihre Mini-Archen zu Wasser ließen. Die Straße zum SolarSpace-Eingang müsste hier irgendwo abzweigen. Hier in der Nähe haben sie Pilar begraben: Tatsächlich, da steht auch schon ihr Holunderstrauch, hoch gewachsen und in voller Blüte. Er ist von summenden Bienen umgeben.
    Liebe Pilar, denkt Toby. Wärst du heute hier, hättest du irgendeine Weisheit für uns parat. Nur welche?
    *
    Vor ihnen blökt es, und fünf − nein, neun − nein, vierzehn Mo’Hairschafe kraxeln die Böschung zur Straße hinauf. Silbern, blau, lila, schwarz, rot, die Haare zu vielen kleinen Zöpfen geflochten − und da kommt ein Mann. Ein Mann in einem weißen Laken, festgegürtet um die Taille. Er hat etwas Biblisches: Er hat sogar einen langen Stab in der Hand, wohl zum Antreiben der Schafe. Als er sie sieht, bleibt er stehen und dreht sich um, beobachtet sie in aller Ruhe. Er trägt eine Sonnenbrille; und er hat ein Spraygewehr. Er hält es lässig, aber weithin sichtbar an seiner Seite. Er hat die Sonne im Rücken.
    Toby bleibt stehen, ihre Kopfhaut und ihre Arme prickeln. Gehört er zu den Painballern? Noch ehe sie ihr Gewehr in Anschlag bringen könnte, hätte er sie durchsiebt. Die Sonne steht günstig für ihn.
    »Das ist Croze!«, sagt Ren. Mit ausgestreckten Armen läuft sie auf ihn zu, und Toby kann nur hoffen, dass sie recht hat. Aber es scheint zu stimmen, denn der Mann lässt sich in den Arm nehmen. Er lässt Spraygewehr und Stab zu Boden fallen und drückt Ren fest an sich, während die Mo’Hairschafe durch die Gegend schlendern und Blumen fressen.
     
    71.
Ren. Sankt Rachel und Allervögel, Jahr Fünfundzwanzig
     
    »Croze!«, sage ich. »Ich glaub’s ja nicht! Ich hab gedacht, du wärst tot!« Ich spreche in sein Laken, weil wir uns so fest drücken, dass ich fast zerquetscht werde. Er sagt gar nichts - vielleicht weint er also sage ich: »Ich wette, du hast gedacht, ich wär auch tot«, und ich spüre sein Nicken.
    Ich lasse los, und wir gucken uns an. Er grinst mühsam. »Woher hast du das Laken?«, frage ich.
    »Gibt ’ne Menge Betten«, sagt er. »Die Dinger sind viel besser als Hosen, da schwitzt man nicht so drin. Hast du Oates gesehen?« Er klingt besorgt.
    Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich will diesen Moment nicht mit einer so schrecklichen Nachricht verderben. Wie der arme Oates mit durchgeschnittener Kehle und ohne Nieren am Baum hing. Aber dann sehe ich Croze ins Gesicht, und ich begreife, dass ich ihn missverstanden habe: Ich bin es, um die er besorgt ist, weil er schon weiß, was mit Oates ist. Er und Shackie waren auf dem Waldweg ja vor uns. Sie hatten mich sicherlich rufen hören und waren in Deckung gegangen. Danach müssen sie Schreie, alle möglichen Schreie gehört haben. Später dann − denn sie waren natürlich an die Stelle zurückgekehrt − müssen sie die Krähen gehört haben.
    Wenn ich nein sage, wird er wahrscheinlich tun, als wäre Oates noch am Leben, um mich zu schonen. »Ja«, sage ich. »Wir haben ihn gesehen. Tut mir leid.«
    Croze sieht zu Boden. Ich überlege, wie ich das Thema wechseln kann. Ringsum knabbern die Mo’Hairschafe vor sich hin − sie wollen in seiner Nähe bleiben −, also sage ich: »Sind das deine Schafe?«
    »Wir haben angefangen, sie zu hüten«, sagt er. »Wir haben sie sozusagen gezähmt. Aber sie reißen immer wieder aus.« Wer ist wir, würde ich gerne fragen. Aber jetzt ist Toby dazugekommen, also sage ich: »Das ist Toby, weißt du noch?«, und Croze sagt: »Ohne Scheiß? Toby von den Gärtnern?«
    Trocken nickt Toby ihm zu und sagt: »Crozier, du

Weitere Kostenlose Bücher