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Das Jahr der Flut

Das Jahr der Flut

Titel: Das Jahr der Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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oder aus Wollresten gestrickt, oder es waren runzlige Alte-Leute-Figuren mit Köpfen aus getrockneten Holzäpfeln. Aber Domino war erlaubt, weil sie die Steine selbst schnitzten. Wenn ich gewonnen hatte, lachte Zeb und sagte: »Na also!«, und dann wurde mir ganz warm ums Herz.
    Lucerne ermahnte mich dauernd, nett zu ihm zu sein, denn obwohl er nicht mein richtiger Vater war, war er wie mein richtiger Vater, und andernfalls wäre er gekränkt. Aber wenn Zeb nett zu mir war, passte es ihr auch wieder nicht. Also wusste ich nie so genau, wie ich mich verhalten sollte.
    *
    Während Zeb singend unter der Dusche stand, machte ich mir was zu essen − getrockenete SojaBits oder vielleicht einen Gemüsebratling vom Abendessen. Lucerne war eine ziemlich katastrophale Köchin. Danach musste ich in die Schule. Meistens hatte ich immer noch Hunger, aber mittags gab es ja auf jeden Fall das Schulessen. Toll war es nicht, aber immerhin etwas. Wie Adam Eins immer sagte: Der Hunger treibt’s hinein.
    Ich konnte mich nicht erinnern, im HelthWyzer-Komplex jemals hungrig gewesen zu sein. Ich wollte zurück. Ich wollte meinen richtigen Vater wiederhaben, der mich bestimmt noch liebte: Hätte er gewusst, wo ich bin, wäre er mich sicher holen gekommen. Ich wollte mein richtiges Haus, mit meinem eigenen Zimmer und dem Bett mit den rosa Bettvorhängen und dem Schrank mit den vielen Klamotten drin. Aber am allermeisten wollte ich eine Mutter haben, die so war wie früher, wenn sie mit mir einkaufen fuhr oder zum Golfclub oder zum AnuYu-Spa, um sich restaurieren zu lassen, und duftend nach Hause kam. Aber sobald ich nur irgendwie auf unser altes Leben zu sprechen kam, sagte sie, damit sei es aus und vorbei.
    Sie hatte viele Gründe, mit Zeb davonzulaufen und zu den Gärtnern zu gehen. Sie sagte damals, deren Weg wäre der beste für die Menschheit und für alle anderen irdischen Geschöpfe und sie hätte aus Liebe gehandelt, nicht nur zu mir und Zeb, sondern auch um die Welt zu heilen, damit nicht alles Leben ausstirbt, und ob mich das denn nicht glücklich machen würde?
    Nur wirkte sie nicht besonders glücklich. Sie saß am Tisch und bürstete sich die Haare, starrte in unseren einzigen kleinen Spiegel und machte ein betrübtes oder kritisches oder vielleicht auch tragisches Gesicht. Sie hatte lange Haare wie alle Gärtnerfrauen, und das viele Bürsten und Flechten und Hochstecken war immer eine Staatsaktion. An schlechten Tagen zog sie das Ganze vier oder fünf Mal hintereinander durch.
    An den Tagen, an denen Zeb nicht da war, redete sie kaum ein Wort mit mir. Oder sie tat, als hätte ich ihn versteckt. »Wann hast du ihn zuletzt gesehen?«, fragte sie dann. »War er in der Schule?« Als hätte ich für sie spionieren sollen. Dann tat es ihr wiederum leid, und sie fragte: »Wie geht’s dir?«, als hätte sie mir Unrecht getan.
    Wenn ich antwortete, hörte sie nicht zu. Stattdessen horchte sie nach Zeb. Sie wurde immer besorgter, sogar wütend; sie tigerte hin und her, sah aus unserem Fenster und erzählte sich selbst, wie schlecht er sie behandelte; aber wenn er dann endlich auftauchte, ließ sie nicht mehr von ihm ab. Dann lag sie ihm die ganze Zeit in den Ohren − wo er gewesen sei und mit wem, warum er nicht schon früher nach Hause gekommen sei. Er zuckte dann immer nur mit den Schultern und sagte: »Ist ja gut, Schatz, jetzt bin ich ja da, mach dich nicht verrückt.«
    Dann verschwanden die beiden hinter ihrem Plastikstreifen-Klebeband-Vorhang, und meine Mutter gab gequälte und jämmerliche Laute von sich, die mir abgrundtief peinlich waren. In dem Moment hasste ich sie, weil sie keinen Stolz und keine Selbstbeherrschung hatte. Es war, als würde sie ohne Klamotten durch die Shoppingpassage rennen. Warum musste sie Zeb so vergöttern?
    Inzwischen verstehe ich, wie so was passieren kann. Man verliebt sich nun mal, egal, was er ist − ob Vollidiot, Verbrecher oder ein Nichts. Es gibt da keine Regeln.
    *
    Was mich noch wahnsinnig störte bei den Gärtnern, war die Kleidung. Die Gärtner selbst hatten alle möglichen Hautfarben im Gegensatz zu ihren Klamotten. Wenn die Natur so schön war, wie die Adams und Evas immer behaupteten − wenn die Lilie auf dem Feld unser Vorbild war −, warum konnten wir dann nicht mehr wie ein Schmetterling aussehen und weniger wie ein Parkplatz? Wir waren so platt, so schlicht, so öde, so düster.
    Die Straßenkinder − die Plebsratten − waren bestimmt nicht reich, aber sie funkelten. Ich

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