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Das Jahr der Flut

Das Jahr der Flut

Titel: Das Jahr der Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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Es ist nie zu früh, diese lebenswichtige Schutzmaßnahme zu ergreifen.
    Meidet jeden, der niest.
    Lasst uns singen.

 
    MEIN LEIB IST MEINE ARCHE
     
    Mein Leib ist meine Arche
    Und mein Schutz gegen die Flut
    Und der Geschöpfe allesamt,
    Denn alle sind sie gut.
     
    Gebaut aus Genen, Zellen
    Und aus zahllosen Neuronen,
    Enthält das Schiff auch Adams
    Schlaf der vielen Jahrmillionen.
     
    Und wenn nun die Zerstörung kommt,
    Wie’s in der Bibel heißt,
    So gleit ich denn zum Ararat
    Im Licht des Heiligen Geists.
     
    Mit allem, was da kreucht und fleucht,
    Geflügelt und am Boden,
    Will ich in Frieden leben und
    Den Herrn gemeinsam loben.
     
    Aus dem
Gesangbuch der Gottesgärtner

 
    18.
Toby. Sankt Crick, Jahr Fünfundzwanzig
     
    Auf der nördlichen Wiese liegt noch immer der tote Eber. Die Geier waren schon an ihm, kommen aber nicht durch seine feste Schwarte: Sie müssen mit Augen und Zunge vorliebnehmen. Bevor sie richtig zugreifen können, müssen sie warten, bis sie fault und aufplatzt.
    Toby dreht ihr Fernglas himmelwärts, wo die Krähen lärmen. Als sie wieder zurückschaut, überqueren gerade zwei Löwämmer die Wiese. Ein Männchen und ein Weibchen spazieren vorbei, als hätten sie die Gegend gepachtet. Sie bleiben vor dem Eber stehen, schnuppern kurz an ihm. Dann schlendern sie weiter.
    Fasziniert starrt Toby hin: Sie hat noch nie ein echtes Löwamm gesehen, nur auf Fotos. Oder bilde ich mir das alles nur ein?, fragt sie sich. Nein, die Löwämmer sind echt. Es müssen Zootiere sein, die in den Wirren der letzten Tage von einer der ganz fanatischen Sekten befreit wurden.
    Sie sehen nicht gefährlich aus, aber sie sind es. Diesen Löwe-Schaf-Spleiß hatten die Löwen-Jesajaisten in Auftrag gegeben, um die Ankunft des Friedensreiches gewaltsam voranzutreiben. Der einzige Weg zur Erfüllung der Löwe/Lamm-Freundschaftsprophezeiung, ohne dass Letzteres durch Ersteres gefressen würde, wäre ihrer Folgerung nach die Verschmelzung beider zu einem einzigen Tier. Das Ergebnis war allerdings nicht gänzlich vegetarisch ausgefallen.
    Sanftmütig wirken sie allemal, die Löwämmer, mit ihrem goldgelockten Fell und den kreisenden Schwänzchen. Sie knabbern an den Blumen, sie sehen nicht hoch; dennoch hat sie das Gefühl, durchaus bemerkt worden zu sein. Dann reißt das Männchen sein Maul auf, entblößt ein paar lange scharfe Eckzähne und stößt einen Ruf aus. Es ist eine eigentümliche Mischung aus Brüllen und Blöken: ein Bröken, denkt Toby.
    Ihr schaudert. Kein schöner Gedanke, dass ein solches Wesen aus dem Gebüsch springen und sich auf sie stürzen könnte. Sollte es ihr Schicksal sein, in Stücke gerissen und verschlungen zu werden, wäre ihr zu diesem Zweck ein konventionelles Raubtier lieber. Dennoch, sie sind verblüffend. Sie beobachtet die beiden beim Herumtollen, und wie sie anschließend in die Luft schnuppern, zum Waldrand schlendern und im gesprenkelten Schatten verschwinden.
    Pilar wäre von dem Anblick bezaubert gewesen, denkt Toby. Pilar, Rebecca und die kleine Ren. Und Adam Eins. Und Zeb. Alle inzwischen tot.
    Hör auf, sagt sie zu sich. Hör jetzt sofort damit auf.
    *
    Gestützt auf den Stiel ihres Wischmopps, arbeitet sie sich vorsichtig seitwärts die Treppe hinunter. Noch immer denkt sie, dass im nächsten Moment die Fahrstuhltüren aufklappen, blinkend die Lichter angehen, die Klimaanlage zu atmen anfängt und irgendjemand − wer nur? − heraustritt.
    Mit leisen Schritten auf dem immer schwammigeren Teppich geht sie den langen Flur hinunter, vorbei an der Reihe von Spiegeln. An Spiegeln herrscht in diesem Spa kein Mangel: Die Damen sollten durch grelles Licht daran erinnert werden, wie schlecht sie aussehen, und dann wiederum durch weiches Licht, wie gut sie mit ein wenig kostspieliger Unterstützung bald aussehen könnten. Nach den ersten paar Wochen aber hatte Toby die Spiegel mit rosa Handtüchern verhängt, um nicht im Vorbeigehen von einem Rahmen zum nächsten vor ihrem eigenen Spiegelbild zu erschrecken.
    »Wer lebt hier?«, sagt sie laut. Ich jedenfalls nicht, denkt sie. Was ich hier tue, verdient kaum die Bezeichnung leben. Ich bin latent vorhanden, wie Keime in einem Gletscher. Ich bringe die Zeit herum. Mehr nicht.
    Den restlichen Vormittag verbringt sie sitzend in einer Art Starre. Meditation, hätte man früher dazu gesagt, aber die Bezeichnung ist wohl jetzt kaum noch angemessen. Noch immer, scheint es, packt sie hin und wieder eine lähmende Wut; unmöglich zu

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