Das Jahr der Flut
sagen, wann sie wieder zuschlägt. Es beginnt als Fassungslosigkeit und endet in Trauer, aber zwischen diesen zwei Phasen zittert sie am ganzen Leib vor Wut. Wut auf wen, auf was? Warum ist ausgerechnet sie mit dem Leben davongekommen? Von zahllosen Millionen? Warum nicht jemand, der jünger ist, jemand mit mehr Optimismus und frischeren Zellen? Sie sollte darauf vertrauen, dass sie aus einem bestimmten Grund hier ist − um Zeugnis abzulegen, eine Botschaft zu überbringen, zumindest irgendetwas aus der allgemeinen Katastrophe zu retten. Sie sollte darauf vertrauen, aber sie kann nicht.
Es ist falsch, der Trauer so viel Zeit zu opfern, sagt sie zu sich. Trauern und brüten. Das bringt einen nicht weiter.
*
Während der Hitze des Tages hält sie ein Nickerchen. In der Mittagshitze wach bleiben zu wollen ist Energieverschwendung.
Sie schläft auf einem Massagetisch in einer der Kabinen, wo die Spa-Gäste ihre bioorganischen Behandlungen bekamen. Rosa Laken, rosa Kissen und auch rosa Decken − weiche Kuschelfarben, Kinderfarben zum Verwöhnen −, die Decken braucht sie gar nicht bei diesem Wetter.
Das Aufwachen fällt ihr in letzter Zeit schwer. Sie muss gegen die Lethargie ankämpfen. Es ist ein starkes Verlangen − zu schlafen. Immer weiter-und weiterzuschlafen. Ewig weiterzuschlafen. Sie kann doch nicht nur in der Gegenwart leben wie ein Strauch. Doch die Vergangenheit ist eine verschlossene Tür, und eine Zukunft sieht sie nicht. Vielleicht wird sie sich auf diese Weise von einem Tag zum nächsten hangeln, von einem Jahr zum nächsten, bis sie einfach eingeht, in sich zusammenfällt, austrocknet wie eine alte Spinne.
Sie könnte auch eine Abkürzung nehmen. Da ist immer noch der Schlafmohn in der roten Flasche, es gibt immer noch die tödlichen Amanita, die kleinen Engel des Todes. Wie lange dauert es noch, bis sie sich ihnen ergibt, sich auf ihren weißen, weißen Flügeln davontragen lässt?
Um sich aufzuheitern, öffnet sie ihr Honigglas. Es ist das letzte Glas von dem Honig, den sie vor so langer Zeit − zusammen mit Pilar − oben auf dem Felsen Eden gewonnen hatte. All die Jahre hatte sie ihn aufbewahrt wie einen Glücksbringer. Honig wird nicht schlecht, sagte Pilar, solange er nicht mit Wasser in Berührung kommt: Die alten Griechen nannten ihn deshalb die Nahrung der Unsterblichkeit.
Sie führt erst einen aromatischen Löffel davon zum Mund, dann einen zweiten. Diesen Honig zu sammeln ist harte Arbeit gewesen: Das Beräuchern der Bienenstöcke, das mühsame Entfernen der Waben, die Honiggewinnung selbst. Fingerfertigkeit und Feingefühl waren gefragt. Man musste mit den Bienen sprechen, sie überzeugen, nebenbei auch vorübergehend betäuben, und manchmal wurde man gestochen, doch in ihrer Erinnerung ist das Ganze ein Erlebnis vollkommenen Glücks. Sie weiß, dass sie sich etwas vormacht, aber lieber so als anders. Sie muss unbedingt daran glauben, dass eine solch ungetrübte Freude noch möglich ist.
19.
Der Gedanke, die Gärtner zu verlassen, rückte bei Toby immer mehr in den Hintergrund. Als gläubig hätte sie sich immer noch nicht bezeichnet, aber auch nicht mehr als völlig ungläubig. Die Jahreszeiten kamen und gingen − Regen, Sturm, heiß und trocken, kühler und trocken, regnerisch und warm − und dann die Jahre. Sie war keine echte Gärtnerin, aber eine Plebslerin war sie auch nicht mehr. Sie war weder das eine noch das andere.
Inzwischen wagte sie sich auf die Straße, auch wenn sie sich nie sehr weit vom Garten entfernte, und immer in voller Bekleidung und mit Nasenhut und breitkrempigem Sonnenhut. Noch immer tauchte Blanco in ihren Albträumen auf − die Schlangen auf seinen Armen, die kopflose, an seinen Rücken gekettete Frau, seine blau geäderten, wie gehäutet wirkenden Hände, die ihr an den Kragen wollten.
Sag, dass du mich liebst! Sag es, du Nutte!
In der schlimmsten Zeit mit ihm, während des größten Terrors, der größten Qualen, hatte sie sich auf die Vorstellung konzentriert, wie ihm die Hände von den Handgelenken abgetrennt werden. Die Hände und andere Körperteile. Wie ein dicker Strahl graues Blut hervorschießt. Sie stellte sich vor, wie er bei lebendigem Leib in einen Boilermüllcontainer gestopft wird. Es waren Gewaltfantasien, und seit sie bei den Gärtnern war, hatte sie sich aufrichtig bemüht, sich davon freizumachen. Doch sie kamen immer wieder. Von den Leuten in den angrenzenden Schlafkabinen erfuhr sie, dass sie nachts im Schlaf
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