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Das Jahr der Flut

Das Jahr der Flut

Titel: Das Jahr der Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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schon kennen. Ach ja − und wenn sie dich doch mal stechen sollten, nicht draufschlagen. Einfach wegwischen, den Stachel. Aber sie stechen ja nur, wenn sie Angst haben, denn das Stechen kostet sie ihr Leben.«
    Pilar verfügte über einen großen Fundus an Bienenweisheiten. Eine Biene im Haus bedeutet, ein Fremder kommt zu Besuch, und wenn man die Biene tötet, wird es kein erfreulicher Besuch. Wenn ein Imker stirbt, müssen es die Bienen erfahren, sonst schwärmen sie aus und fliegen davon. Honig hilft bei offenen Wunden. Ein Bienenschwarm im Monat Mai bringt einen kühlen Tag herbei. Ein Bienenschwarm vor Junis Tor, dann steht ein neuer Mond bevor. Ein Bienenschwarm Mitte Julei, die Fliegenklatschte bringt herbei. Die Bienen eines Bienenstocks sind wie eine einzige Biene: Daher sterben sie auch für den Bienenstock. »Genau wie bei den Gärtnern«, sagte Pilar. Toby wusste nicht, ob das ein Scherz sein sollte oder nicht.
    Erst waren die Bienen unruhig, aber nach einer Weile akzeptierten sie Toby. Sie erlaubten ihr, ganz allein den Honig zu gewinnen, und sie wurde nur zweimal gestochen. »Auch Bienen können sich irren«, erklärte Pilar. »Du musst die Königin um Erlaubnis bitten und ihr klarmachen, dass du’s gut mit ihnen meinst.« Man müsse laut reden, denn Bienen könnten genauso wenig Gedanken lesen wie ein Mensch. Also sprach Toby mit ihnen, auch wenn sie sich idiotisch dabei vorkam. Was würden die Leute da unten auf dem Gehweg von ihr denken, im Zwiegespräch mit einem Bienenvolk?
    Pilars Ansicht nach war die Existenz der Bienen auf der ganzen Welt schon seit Jahrzehnten ernsthaft bedroht. Entweder waren es die Pestizide, oder es war die Hitze oder eine Krankheit oder alles zusammen − niemand wusste es genau. Doch den Bienen auf dem Dachgarten ginge es gut. Sie gediehen sogar prächtig. »Sie wissen, dass sie geliebt werden«, sagte Pilar.
    Toby hatte da ihre Zweifel. Sie zweifelte an so einigem. Aber sie behielt ihre Zweifel für sich, denn das Wort Zweifel war bei den Gärtnern nicht allzu beliebt.
    *
    Irgendwann ging Pilar mit Toby hinunter in die feuchtkalten Kellerräume des Buenavista-Hauses und zeigte ihr, wo die Pilze angebaut wurden. Bienen und Pilze passten zusammen, sagte Pilar. Die Bienen hatten ein gutes Verhältnis zur unsichtbaren Welt, da sie als Kuriere der Toten galten. Diese aberwitzige Behauptung ließ sie nebenbei fallen, als wäre sie allgemein anerkannt, und Toby tat, als sähe sie darüber hinweg. Pilze waren die Rosen im Garten dieser unsichtbaren Welt, denn der eigentliche Pilz sei unter der Erde. Der sichtbare Teil − das, was die meisten Leute als Pilz bezeichneten − war nur eine vorübergehende Erscheinung. Eine Wolkenblüte.
    Es gab essbare Pilze, Arzneipilze und Pilze für Visionen. Letztere kamen nur bei Vigilien und Isolationswochen zum Einsatz, wobei sie auch gelegentlich bei bestimmten Krankheiten helfen konnten und um den Leuten die Brache ein wenig zu erleichtern, die Zeit, in der die Seele neu gedüngt wurde. Jeder, sagte Pilar, gerate hin und wieder in den Zustand der Brache. Sich allzu lange darin aufzuhalten sei jedoch mit Gefahren verbunden.
    »Das ist, als würde man die Treppe runtergehen«, sagte sie, »und nie wieder raufkommen. Aber die Pilze können einem dabei helfen.«
    Es gebe drei Pilzsorten, sagte Pilar. Nicht giftig, Vorsicht und Konsultation, und Finger weg. Sie mussten alle auswendig gelernt werden. Boviste aller Art: Nicht giftig. Die Psilobycine: Vorsicht und Konsultation. Alle Amanitas, vor allem die Amanita phalloides, der Engel des Todes: Finger weg.
    »Sind die nicht sehr gefährlich?«, fragte Toby.
    Pilar nickte. »Oh ja. Sehr gefährlich.«
    »Warum baust du sie dann an?«
    »Gott hätte keine Giftpilze geschaffen, wenn er nicht gewollt hätte, dass wir sie gelegentlich benutzen«, sagte Pilar.
    Toby konnte kaum glauben, was sie da soeben aus dem Mund der so sanftmütigen Pilar gehört hatte.
    »Du würdest doch wohl niemanden vergiften!«, sagte sie.
    Pilar sah ihr ins Gesicht. »Man weiß nie, meine Liebe«, sagte sie, »wann man vielleicht mal muss.«
    *
    Inzwischen verbrachte Toby ihre ganze freie Zeit mit Pilar − sie hegten die Bienenstöcke auf dem Felsen Eden sowie die auf den angrenzenden Dächern eigens für die Bienen angelegten Buchweizen-und Lavendelfelder, sie gewannen Honig und füllten ihn in Gläser. Sie versahen die Etiketten mit dem kleinen Bienenstempel, den Pilar anstelle von beschrifteten Etiketten verwendete,

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