Das Jahr der Flut
Immerhin war Amanda eine Plebsratte und gehörte zu unseren Feinden. Bernice hasste sie natürlich, aber sie ließ sich nichts anmerken, weil sie genauso viel Ehrfurcht vor ihr hatte wie alle anderen. Zum einen konnte keines der Gärtnerkinder tanzen, und Amanda hatte es wirklich drauf − die konnte die Hüften regelrecht auskugeln. Immer wenn Lucerne und Zeb nicht da waren, gab sie mir Unterricht. Um Musik zu haben, schalteten wir ihr lila Handy ein, das sie unter ihrer Matratze versteckte, und immer wenn die Handykarte leer war, klaute sie sich ein neues Handy. Außerdem hatte sie da auch noch ein paar schrille Plebslerklamotten versteckt, wenn sie sich also irgendwas klauen musste, zog sie sich die Klamotten an und verschwand in der Shoppingpassage von Sinkhole.
Ich sah, dass Shackleton und Crozier und die älteren Jungs in sie verliebt waren. Sie war sehr hübsch mit ihrer goldbraunen Haut, dem langen Hals und den großen Augen, aber man konnte hübsch sein und immer noch von diesen Jungs als Gurkenwichser oder Fleischloch auf Beinen beschimpft werden. Sie hatten jede Menge kranke Schimpfwörter für Mädchen auf Lager.
Aber nicht für Amanda: Vor ihr hatten sie Respekt. Sie hatte eine Glasscherbe mit Klebestreifenrand als Griff, und sie meinte, diese Scherbe hätte ihr mehr als einmal das Leben gerettet. Sie zeigte uns, wie man einem Typen das Ding in den Schritt rammt oder ihm ein Bein stellt und einen Tritt in den Unterkiefer verpasst und ihm damit das Genick brechen kann. Es gebe viele solcher Tricks, sagte sie. Tricks für den Notfall.
Aber an Feiertagen oder bei der Blütenblätter-Chorprobe war keiner so fromm wie sie. Man hätte meinen können, sie hätte in Milch gebadet.
DAS FEST DER ARCHEN
Jahr Zehn
Von den beid
en Fluten und den beiden Bünden
Gesprochen von Adam Eins
Liebe Freunde und Mitsterbliche:
Heute haben die Kinder ihre kleinen Archen gebaut und sie auf dem Arboretum-See schwimmen lassen, damit andere Kinder sie am Seeufer finden und so von der Ehrfurcht vor Gottes Geschöpfen erfahren können. Da wir in einer zunehmend gefährdeten Welt leben, ist das wahrhaft ein Akt der Nächstenliebe! Lasst uns stets daran denken: Hoffen und wagen ist besser als verzagen!
Heute Abend steht uns ein besonderes Festmahl bevor − Rebeccas köstliche Linsensuppe, Sinnbild der ersten Flut, mit Arche-Noah-Klößen in Tierform. In einem dieser Klöße befindet sich eine aus Steckrüben geschnitzte Noahfigur, und wer diesen Noah findet, erhält einen besonderen Preis − und nebenbei lernen wir, unser Essen nicht achtlos hinunterzuschlingen.
Der Preis ist ein Bild, gemalt von Nuala, unserer talentierten Eva Neun: Es zeigt den heiligen Brendan, Schutzpatron der Reisenden, hier mit den notwendigen Attributen, die wir in Vorbereitung auf die wasserlose Flut in unseren Ararat-Vorratsräumen deponieren müssen. In diesem Werk hat Nuala die Büchsen-Sojadinen und SojaBits angemessen hervorgehoben. Lasst uns jedoch stets daran denken, unsere Ararats regelmäßig frisch aufzustocken. Wie ungern möchte man dereinst am Tage der Not eine Büchse Sojadinen öffnen und feststellen, dass der Inhalt schlecht geworden ist.
Burts ehrenwerte Frau Veena befindet sich in der Brache und kann am heutigen Feiertag nicht hier sein, aber wir freuen uns, sie bald wieder unter uns begrüßen zu können.
Nun lasst uns anlässlich des Arche-Fests zur Andacht schreiten.
An diesem Tag haben wir Grund zur Trauer, aber auch Grund zur Freude. Wir betrauern den Tod aller Geschöpfe zu Land, die infolge jener ersten Flut − nach und nach − ausgestorben sind, aber wir jauchzen, dass die Fische und Wale, Korallen, Meeresschildkröten, Seeigel, ja, und auch die Haie − wir jauchzen, dass sie verschont wurden, abgesehen von der ein oder anderen Art, die durch eine Veränderung von Meerestemperatur und Salzgehalt durch hohen Frischwasserniederschlag Schaden erlitten, ohne dass wir davon wissen.
Wir betrauern das Gemetzel unter den Tieren. Wie die fossilen Zeugnisse belegen, war es offenbar Gottes Wille, zahlreiche Arten auszulöschen, wobei viele bis in unsere Zeit hinein gerettet wurden, und diese sind es, die Er erneut in unsere Obhut gab. Wäre man der Schöpfer einer herrlichen Sinfonie, wollte man diese etwa dem Untergang preisgeben? Die Erde und die Musik der Erde, das Universum und dessen innere Harmonie − dies ist das schöpferische Werk Gottes, gegen das sich das Werk des Menschen wie ein bloßer Schatten
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