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Das Jahr der Flut

Das Jahr der Flut

Titel: Das Jahr der Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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gelegentlich »Signale der Verzweiflung« von sich gebe.
    Adam Eins wusste um diese Signale. Mit der Zeit war sie zu der Erkenntnis gelangt, dass man ihn auf keinen Fall unterschätzen durfte. Obwohl sein Bart inzwischen ein unschuldig-flauschiges Weiß angenommen hatte und seine blauen Augen rund und arglos wie die eines Babys waren, obwohl er so zutraulich und verletzlich wirkte. Toby hatte das Gefühl, dass sie nie wieder einem so willensstarken Menschen begegnen würde. Er ging mit dieser Willensstärke nicht hausieren, er ließ sich einfach neben ihr her und auf ihr treiben. Dieser Umstand bot wenig Angriffsfläche: es wäre wie ein Angriff gegen die Gezeiten gewesen.
     
    »Er ist jetzt beim Painball«, teilte er ihr eines schönen Sankt Mendels mit. »Er kommt vielleicht nie wieder raus. Vielleicht wird er dort wieder eins mit den Elementen.«
    Tobys Herz flatterte. »Was hat er denn gemacht?«
    »Eine Frau umgebracht«, sagte Adam Eins. »Die falsche Art Frau. Eine Corps-Frau, die sich in den Plebs ein bisschen amüsieren wollte. Davon ist wirklich abzuraten. Diesmal sah sich das CorpSeCorps gezwungen einzugreifen.«
    Painball war Toby ein Begriff. Es handelte sich dabei um eine Einrichtung für verurteilte Verbrecher, sowohl für politische als auch für die anderen: Sie hatten die Wahl zwischen Tod durch Spraygewehr oder Painball-Arena, die keine Arena als solche war, sondern eher ein eingezäuntes Waldstück. Man erhielt eine Lebensmittelration für vierzehn Tage und das Painball-Gewehr − ein Farbgewehr wie beim Paintball, nur dass man beim Schuss in die Augen blind und beim Schuss auf die Haut verätzt wurde, und dann war man leichte Beute für die Schlächter der Gegenmannschaft. Denn jeder, der hineinging, wurde einer Mannschaft zugeteilt: den Roten oder den Goldenen.
    Weibliche Verbrecher wählten nur selten Painball, sie wählten das Spraygewehr. Ebenso die meisten Politischen. Sie wussten, dass sie im Painball kaum eine Chance hätten, und wollten es einfach nur hinter sich bringen. Das sah Toby ein.
    Lange Zeit war die Painball-Arena unter Verschluss gehalten worden, ähnlich wie die Hahnenkämpfe und außerordentlichen Verhöre, aber inzwischen konnte man die Kämpfe wohl sogar am Bildschirm verfolgen. Im gesamten Painball-Wald, auf Bäumen und in Felsen, waren Kameras installiert, aber es war selten mehr zu sehen als ein Bein, ein Arm oder ein verschwommener Schatten, denn die Painball-Spieler hielten sich verständlicherweise bedeckt. Aber dann und wann gab es mal einen Treffer, direkt vor der Kamera. Wer einen Monat überlebte, war gut; wer noch länger überlebte, war richtig gut. Manche wurden adrenalinsüchtig und wollten gar nicht mehr raus, nicht einmal nach Ablauf ihrer Haftzeit. Selbst eingefleischteste CorpSeCorps-Männer hatten Angst vor den Langzeit-Painballern.
    Manche Mannschaften hängten ihre Beute an Bäumen auf, andere verstümmelten die Leiche. Trennten den Kopf vom Rumpf, rissen Herz und Nieren heraus. Vor allem um die Gegenmannschaft einzuschüchtern. Manche aßen sogar davon, wenn Nahrung knapp war, oder auch nur, um ihre Brutalität unter Beweis zu stellen. Nach einer Weile, dachte Toby, überschritt man wohl nicht nur alle Grenzen, man hatte keine Erinnerung mehr an Grenzen überhaupt. Man war zu allem bereit.
    Vor ihrem inneren Auge tauchte das Bild eines enthaupteten, an den Füßen aufgehängten Blanco auf. Was empfand sie dabei? Freude? Mitleid? Schwer zu sagen.
    Sie bat um eine Vigil und verbrachte sie auf Knien mit dem Versuch, in Gedanken mit einem Erbsenstrauch zu verschmelzen. Ranken, Blüten, Blätter, Schoten. So grün und tröstlich. Hätte fast funktioniert.
    *
    Eines Tages fragte Pilar mit ihrem Walnussgesicht − Eva Sechs −, ob Toby nicht Lust hätte, sich mit den Bienen zu beschäftigen. Bienen und Pilze waren Pilars Spezialgebiete. Toby mochte Pilar, die ihr freundlich erschien und eine beneidenswerte Gelassenheit ausstrahlte; also sagte sie zu.
    »Gut«, sagte Pilar. »Den Bienen kannst du immer deine Sorgen anvertrauen.« Adam Eins war offenbar nicht der Einzige, der bemerkt hatte, dass Toby Kummer hatte.
    Pilar führte sie zu den Waben und stellte sie den Bienen mit Namen vor. »Sie müssen wissen, dass du in friedlicher Absicht kommst«, sagte sie. »Sie können dich riechen. Nur keine hastigen Bewegungen machen«, sagte sie warnend, als sich die Bienen auf Tobys nacktem Arm niederließen wie ein goldenes Fell. »Beim nächsten Mal werden sie dich

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