Das Jahr der Flut
wie könnt ihr euch so sicher sein?«, fragte Toby. »Diese Konzerne − man weiß doch gar nicht, was die da überhaupt machen. Diese abgeriegelten Konzern-Komplexe, nichts dringt an die Öffentlichkeit …«
»Hast du eine Ahnung«, sagte Pilar. »Es wurde noch kein Schiff gebaut, das nicht irgendwann leck schlug. Jetzt versprich es mir.«
Toby versprach es.
»Eines Tages«, sagte Pilar, »wenn du eine Eva bist, wirst du das alles besser verstehen.«
»Ach, ich glaube nicht, dass ich jemals eine Eva sein werde«, sagte Tony leichthin. Pilar lächelte.
*
Später am Nachmittag, nachdem Pilar und Toby mit dem Imkern fertig waren und Pilar dem Bienenstock und der Königin für die Zusammenarbeit gedankt hatte, kam Zeb über die Feuertreppe hoch. Er trug eine schwarze Flederjacke, wie sie bei den Solarbikern beliebt war. Solche Jacken wurden gern mit Schlitzen versehen, um während der Fahrt mehr Luft an den Körper zu lassen, aber in dieser Jacke befanden sich noch ein paar Einschnitte mehr.
»Was ist denn passiert?«, fragte Toby. »Was kann ich tun?« Zeb hielt sich mit seinen kräftigen Händen den Bauch; Blut sickerte zwischen seinen Fingern hervor. Toby war leicht übel. Gleichzeitig drängte es sie zu sagen: »Pass auf, dass die Bienen nichts abkriegen.«
»Bin hingefallen und hab mich geschnitten«, sagte Zeb. »Glasscherben.« Er atmete schwer.
»Das glaube ich dir nicht«, sagte Toby.
»Das hab ich auch nicht erwartet«, sagte Zeb grinsend. »Hier«, sagte er zu Pilar. »Ich hab dir was mitgebracht. Mit freundlichen Grüßen der Firma GeheimBurger.« Er griff in die Tasche seiner Flederjacke und holte eine Handvoll Hackfleisch hervor. Einen furchtbaren Moment lang hatte Toby den Eindruck, er habe sein eigenes Fleisch in der Hand, doch Pilar lächelte.
»Danke, lieber Zeb. Auf dich ist wirklich Verlass. Und nun komm mit, damit wir dich wieder zusammenflicken können. Toby, geh Rebecca suchen und lass dir ein paar saubere Geschirrhandtücher geben. Und Katuro. Den auch.« Offenbar konnte sie durchaus Blut sehen.
Wie alt muss ich erst werden, dachte Toby, bevor ich so gelassen bleiben kann? Sie fühlte sich wie aufgeschnitten.
21.
Pilar und Toby trugen Zeb in die Brache-Genesungshütte in der nordwestlichen Ecke des Dachgartens, in die sich die Gärtner zurückzogen, um Vigilien zu halten, aus der Brache zu kommen oder mildere Krankheiten auszukurieren. Sie halfen ihm, sich hinzulegen. Mit einem Stapel Geschirrhandtücher trat Rebecca aus der eingezäunten Hütte im hinteren Teil des Gartens.
»Wer hat das gemacht?«, fragte sie. »Was sind das für Schnitte! Habt ihr euch mit Flaschen geprügelt?«
Katuro kam hinzu, schälte Zeb die Jacke vom Bauch und warf einen fachmännischen Blick auf die Wunde. »Die Rippen haben das Schlimmste verhindert«, sagte er. »Schnittwunden, keine Stichwunden. Keine tiefen Löcher − zum Glück.«
Pilar reichte Toby das Hackfleisch. »Hier, für die Maden«, sagte sie. »Könntest du dich diesmal darum kümmern, meine Liebe?« Dem Geruch nach zu urteilen, war das Fleisch schon leicht verdorben. Toby wickelte es in eine Mullbinde aus der Wellness-Klinik, wie sie es bei Pilar schon öfters gesehen hatte, und ließ das Bündel an einer Schnur über den Rand des Daches hinab. In ein paar Tagen, wenn die Fliegen ihre Eier abgelegt hätten und die Maden geschlüpft wären, würde sie es wieder hochziehen und die Maden entnehmen, denn wo Fleisch vor sich hin faulte, waren Maden nicht weit. Für medizinische Notfälle hatte Pilar immer einen Vorrat Maden zur Hand, nur deren Anwendung hatte Toby noch nicht gesehen.
Madentherapie, sagte Pilar, sei eine uralte Heilkunst. Genau wie Blutegel und Schröpfen gelte sie heute als unzeitgemäß, obwohl im Ersten Weltkrieg die Ärzte festgestellt hätten, dass bei den Soldaten die Wunden unter Einsatz von Maden viel schneller heilten. Sie fraßen sich nicht nur durch das faulende Fleisch, sie töteten auch nekrotische Bakterien und waren daher sehr gut gegen Wundbrand.
Es sei gar nicht unangenehm, das Gefühl auf der Haut, sagte Pilar − ein sanftes Knabbern wie von winzigen Fischen −, nur müsse man gut aufpassen, denn sobald das faulende Fleisch verzehrt sei, dringen sie in das gesunde ein, und dann könne es schnell schmerzhaft und blutig werden. Ansonsten aber verheile die Wunde sauber.
*
Pilar und Katuro wuschen Zebs Schnittwunden mit Essig aus und schmierten sie mit Honig ein. Zeb hatte aufgehört zu
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