Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Jahr der Flut

Das Jahr der Flut

Titel: Das Jahr der Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
Vom Netzwerk:
man sie sich nackt vorstellte, miteinander oder mit einem Straßenköter, oder auch mit den grünhäutigen Mädchen auf den Bildern vor dem Scales and Tails, kamen sie einem etwas weniger allmächtig vor. Dennoch, die Vorstellung, wie Nuala stöhnt und wild mit den Armen fuchtelt, und zwar zusammen mit Burt der Bockwurst, fiel einem nicht leicht. »Na ja«, sagte ich, »Bernice können wir’s jedenfalls nicht stecken!« Dann lachten wir noch mehr.
    In der Vorhalle des Buenavista-Hauses nickten wir der schwabbeligen Gärtnerfrau zu, die über einer Handarbeit am Empfang saß und nicht mal hochblickte. Dann gingen wir die Treppe rauf, möglichst ohne auf die gebrauchten Spritzen und Gummis zu treten. Buenavista-Graus, sagte Amanda immer zu diesem Gebäude, und ich machte ihr das nach. Der würzig-pilzige Buenavista-Geruch war stärker als sonst.
    »Irgendeiner baut hier was an«, sagte Amanda. »Hier stinkt’s extrem nach Skunkgras.« Sie war Expertin auf dem Gebiet: Sie hatte draußen in der Außenhölle gelebt und sogar schon einige Male Drogen genommen. Aber nicht sehr oft, sagte sie, weil man mit Drogen nicht mehr klar denken könne, und man solle immer nur was bei Leuten kaufen, denen man vertraue, weil in allem immer alles Mögliche drin sein könne, und sie vertraue eigentlich kaum jemandem richtig. Ich nervte sie manchmal damit, ob ich nicht auch mal was probieren könne, aber sie war strikt dagegen. »Du bist doch noch ’n Baby«, sagte sie immer. Oder sie sagte, seit sie bei den Gärtnern sei, habe sie keine gute Connection mehr.
    »Kann aber nicht sein, dass hier einer was anbaut«, sagte ich. »Das Gebäude gehört doch den Gärtnern. Nur die Plebsbanden bauen an. Ich glaub eher, irgendwelche Jugendliche kommen hier nachts zum Kiffen rein. Plebsler.«
    »Schon klar«, sagte Amanda, »aber das ist kein Rauch. Das riecht nach Anbau.«
    Als wir den vierten Stock erreichten, hörten wir Stimmen − Männerstimmen, zwei verschiedene, auf der anderen Seite der Tür zum Treppenhaus. Sie klangen alles andere als freundlich.
    »Mehr hab ich nicht«, sagte die eine Stimme. »Den Rest krieg ich morgen.«
    »Arschloch!«, sagte der andere. »Verarsch mich nicht!« Man hörte ein dumpfes Geräusch, als wäre irgendwas gegen die Wand geknallt, das Gleiche nochmal und dann einen wortlosen Schrei aus Wut oder Schmerzen.
     
    Amanda tippte mich an. »Rauf«, sagte sie. »Schnell.«
    So leise wie möglich rannten wir die restlichen Stufen hoch. »Das war was Ernstes«, sagte Amanda, als wir den sechsten Stock erreicht hatten.
    »Meinst du?«
    »Irgendein Deal ist in die Hose gegangen«, sagte Amanda. »Wir haben nichts gehört. Jetzt tu so, als wär nichts gewesen.« Sie sah ängstlich aus, was mir dann auch Angst machte, weil Amanda normalerweise so schnell keine Angst bekam.
    Wir klopften bei Bernice an, wie immer. »Klopf, klopf«, sagte Amanda.
    »Wer ist da?«, sagte Bernice. Anscheinend hatte sie direkt hinter der Tür gewartet, als hätte sie Angst, dass wir vielleicht nicht kommen würden. Das fand ich traurig.
    »Gang«, sagte Amanda.
    »Und weiter?«
    »Ganggrün«, sagte Amanda. Sie hatte Shackies Losungswort übernommen, und wir drei hatten es inzwischen in ständigem Gebrauch.
    Als Bernice an die Tür kam, konnte ich einen Blick auf die vegetierende Veena werfen. Sie saß wie immer auf ihrem braunen Plüschsofa, nur dass sie uns ansah, als würde sie uns tatsächlich erkennen. »Jetzt aber nicht trödeln«, sagte sie zu Bernice.
    »Sie hat ja mit dir gesprochen!«, sagte ich zu Bernice, als sie im Hausflur stand und die Tür hinter sich zugezogen hatte. Ich wollte eigentlich nur nett sein, aber Bernice ließ mich auflaufen. »Ja, na und?«, sagte sie. »Sie ist ja nicht hirntot.«
    Bernice warf mir einen kurzen wütenden Blick zu. Aber selbst ihre wütenden Blicke waren nicht mehr das, was sie mal waren, seit Amanda bei uns lebte.
     
    27.
     
    Als wir zu dem leeren Grundstück hinter dem Scales kamen, wo wir Unterricht im Freien samt Raubtier-Beute-Vorführung haben sollten, saß Zeb auf einem Campingstuhl. Vor seinen Füßen lag ein Stoffbeutel mit irgendwas drin. Ich versuchte, den Beutel nicht anzusehen. »Sind alle da?«, fragte Zeb. »Also dann. Raubtier-Beute-Beziehung. Jagen und Pirschen. Wie lauten die Regeln?«
    »Sehen, ohne gesehen zu werden«, sagten wir im Chor. »Hören, ohne gehört zu werden. Riechen, ohne gerochen zu werden. Essen, ohne gegessen zu werden!«
    »Eine habt ihr vergessen«,

Weitere Kostenlose Bücher