Das Jahr der Flut
sagte Zeb.
»Verletzen, ohne verletzt zu werden«, sagte einer der ältesten
Jungs.
»Richtig! Ein Räuber kann es sich nicht leisten, ernsthaft verletzt zu werden. Wenn er nicht jagen kann, muss er verhungern. Er muss blitzschnell angreifen und sofort töten können. Er muss sich eine Beute suchen, die ihm gegenüber im Nachteil ist − zu jung, zu alt, zu angeschlagen, um fliehen oder sich verteidigen zu können. Wie können wir es verhindern, selbst zur Beute zu werden?«
»Wir dürfen nicht ins Beuteschema passen«, sagten wir im Chor.
»Wir dürfen nicht ins Beuteschema
dieses Räubers
passen«, sagte Zeb. »Für einen Hai sieht ein Surfer von unten aus wie ein Seehund. Versucht euch mal vorzustellen, wie ihr aus der Sicht des Räubers ausseht.«
»Man darf keine Angst zeigen«, sagte Amanda.
»Richtig. Keine Angst zeigen. Nicht krank aussehen. Sich so groß wie möglich machen. Das schreckt größere Raubtiere ab. Aber wir gehören ja selbst zu den größeren Raubtieren, nicht? Warum sollten wir also jagen?«, fragte Zab.
»Um zu essen«, sagte Amanda. »Es gibt sonst keinen vernünftigen Grund.« Zeb grinste sie an, als wäre das ein besonderes Geheimnis zwischen den beiden. »Genau«, sagte er.
Zeb nahm den Stoffbeutel, schnürte ihn auf und griff hinein. Seine Hand war ziemlich lange da drin, hatte man das Gefühl. Dann zog er ein totes grünes Kaninchen hervor. »Das hier stammt aus dem Heritage Park. Kaninchenfalle«, sagte er. »Schlinge. Damit fängt man auch Wakunks. Und jetzt wollen wir die Beute häuten und ausnehmen.«
Wenn ich an diesen Teil denke, wird mir immer noch schlecht. Die älteren Jungs assistierten − ohne mit der Wimper zu zucken, obwohl selbst Shackie und Croze einen etwas angespannten Eindruck machten. Sie taten immer alles, was Zeb sagte. Sie sahen zu ihm auf. Und zwar nicht nur wegen seiner Körpergröße, sondern deshalb, weil er sagenumwoben war, und vor Sagen hatten sie Respekt.
»Und was ist, wenn das Kaninchen, sozusagen, noch nicht tot ist?«, fragte Croze. »In der Falle.«
»Dann muss man es töten«, sagte Zeb. »Dann nimmt man einen Stein und schlägt ihm den Schädel ein. Oder man packt es an den Hinterläufen und knallt es gegen den Boden.« Ein Schaf dagegen würde man so nicht töten, fügte er hinzu, weil Schafe sehr harte Schädel hätten: man würde ihm die Kehle aufschlitzen. Für jedes Tier gebe es eine ideale Tötungsmethode.
Zeb begann das Kaninchen zu häuten. Amanda half ihm dabei, die pelzige grüne Haut wie einen Handschuh umzustülpen. Ich versuchte, nicht auf die Adern zu schauen. Sie waren viel zu blau. Und die vielen schimmernden Sehnen.
Zeb schnitt die Fleischstücke ganz klein, damit jeder probieren konnte und auch, um uns nicht zu sehr mit großen Stücken zu quälen. Dann grillten wir die Fleischstücke über einem Feuer aus alten Brettern.
»So werdet ihr’s machen müssen, wenn es hart auf hart kommt«, sagte Zeb. Er reichte mir ein Stück. Ich steckte es in den Mund. Ich stellte fest, dass es mit dem Kauen und Schlucken ging, solange ich mir immer wieder sagte: Es ist eigentlich nur Tofu, es ist eigentlich nur Tofu … Ich zählte bis hundert, und weg war’s.
Aber ich hatte den Geschmack von Kaninchen im Mund. Als hätte ich Nasenbluten gegessen.
*
Am selben Nachmittag fand unser Baum-des-Lebens-Naturalienmarkt statt, auf einem begrünten Platz am nördlichen Rand des Heritage Park, gegenüber von den SolarSpace-Boutiquen. Für die kleinen Kinder gab es einen Sandkasten, Schaukeln und Rutsche. Da stand auch immer eine Hütte aus Lehm, Sand und Stroh. Sie hatte sechs Zimmer und runde Türeingänge und Fenster, aber keine Türen und kein Glas. Ein paar Grüne hatten sie mal irgendwann in grauer Vorzeit gebaut, vor mindestens dreißig Jahren, sagte Adam Eins. An den Wänden prangten die Tags und Botschaften der Plebsratten:
IL PSSYS (ggrllt). SMD, ist bio! FU
gertnr!
Der Baum des Lebens war nicht nur für Gärtner gedacht. Alle im NatMart verkauften da − die Fernside-Kollektive, die Big Boxler, die Golfgreens-Grünen. Auf diese Leute blickten wir herab, weil sie besser angezogen waren als wir. Adam Eins sagte immer, ihre Waren seien moralisch verseucht, auch wenn sie nicht ganz so von synthetischer Sklavenarbeit strotzten wie die schrillen Sachen in der Shoppingpassage. Die Fernsider verkauften ihre dick lasierten Keramikartikel, dazu Schmuck aus Büroklammern; die Big Boxler boten Stricktiere zum Verkauf; die
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