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Das Jahr der Flut

Das Jahr der Flut

Titel: Das Jahr der Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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meine Toby«, sagte Pilar. »Du kennst unsere Meinung zu Krankenhäusern. Da könnt ihr mich gleich auf den Mist werfen. Außerdem gibt es kein Mittel gegen das, was ich genommen habe. Jetzt reich mir mal bitte das Glas da − das blaue.«
    »Warte noch!«, sagte Toby. Wie die Sache hinauszögern, aufschieben? Wie Pilar behalten?
    »Es ist nur Wasser mit etwas Weide und Schlafmohn«, flüsterte Pilar. »Hilft gegen die Schmerzen, ohne einen umzuhauen. Ich möchte so lange wie möglich wach bleiben. Für den Moment ist alles gut bei mir.«
    Toby sah, wie Pilar trank. »Noch ein Kissen«, sagte Pilar.
    Toby reichte ihr einen der hülsengefüllten Säcke vom Fußende des Bettes. »Du warst hier meine Familie«, sagte sie. »Mehr als die anderen.« Sie konnte nur mit Mühe sprechen, Tränen aber kamen nicht in Frage.
    »Und du meine«, sagte Pilar schlicht. »Denk an den Buenavista-Ararat. Es muss immer frisch aufgestockt werden.«
    Toby wollte ihr nicht erzählen, dass wegen Burt der Buenavista-Ararat für sie verloren war. Wozu sie aufregen? Sie half Pilar sich aufzusetzen, sie war eigentümlich schwer. »Was hast du genommen?«, fragte sie. Ihre Kehle war wie zugeschnürt.
    »Ich habe dich gut ausgebildet«, sagte Pilar. Ihre Augenwinkel zogen sich zusammen, als wenn die ganze Sache nur ein Jux wäre. »Vielleicht kommst du von selbst drauf. Symptome: Krämpfe und Erbrechen. Dann eine Ruhephase, in der sich die Patientin zu erholen scheint. Inzwischen aber wird die Leber langsam zerstört. Kein Gegengift.«
    »Eines der Amanitas«, sagte Toby.
    »Kluges Mädchen«, flüsterte Pilar. »Der Engel des Todes, ein Helfer in der Not.«
    »Aber es wird so schmerzhaft sein«, sagte Toby.
    »Es gibt noch immer den Schlafmohnextrakt. Das rote Fläschchen − das da. Ich sage dir Bescheid, wann es so weit ist. Jetzt hör mir genau zu. Dies ist mein Letzter Wille. Leichentücher haben keine Taschen, wie wir immer sagen − alles Irdische muss von den Sterbenden auf die Lebenden übergehen, auch unser Wissen. Ich möchte dir alles vermachen, was ich hier zusammengestellt habe − mein ganzes Material. Es ist eine gute Sammlung, und sie verleiht gewaltige Kräfte. Pass gut darauf auf und nutze sie mit Verstand. Ich vertraue da ganz auf dich. Mit einigen dieser Fläschchen kennst du dich aus. Für die anderen habe ich eine Liste auf Papier geschrieben, die du auswendig lernen und vernichten musst. Die Liste ist in dem grünen Glas − in dem da. Versprichst du mir das?«
    »Ja«, sagte Toby. »Versprochen.«
    »Am Sterbebett abgelegte Versprechen sind uns heilig«, sagte Pilar. »Das weißt du. Nicht weinen. Sieh mich an. Ich bin nicht traurig.«
    Toby kannte die Theorie: Pilar glaubte, dass sie sich aus freien Stücken der Matrix des Lebens übergab, und für sie war das ein Anlass zum Feiern.
    Aber was ist mit mir?, dachte Toby. Ich werde verlassen. Es war genau wie damals, als erst ihre Mutter starb und dann ihr Vater. Wie oft würde sie noch verwaisen müssen? Hör auf zu jammern, ermahnte sie sich.
    »Ich möchte, dass du die Eva Sechs wirst. An meiner Stelle. Niemand sonst hat das Talent und das Wissen. Wirst du das für mich tun? Versprochen?«
    Toby versprach es. Was hätte sie sagen sollen?
    »Gut«, flüsterte Pilar und atmete aus. »Ich glaube, es wird jetzt Zeit für den Schlafmohn. Das rote Fläschchen, genau das. Wünsch mir alles Gute für meine Reise.«
    »Danke für alles, was du mir beigebracht hast«, sagte Toby. Das halte ich nicht aus, dachte sie. Ich töte sie. Nein: Ich helfe ihr bei der Selbsttötung. Ich erfülle ihre Wünsche.
    Sie sah, wie Pilar trank.
    »Danke für das Lernen«, sagte Pilar. »Ich schlafe jetzt ein. Vergiss nicht, den Bienen Bescheid zu sagen.«
    *
    Toby saß neben Pilar, bis sie nicht mehr atmete. Dann zog sie ihr die Decke über das friedliche Gesicht und löschte die Kerze. War es nur Einbildung, oder war die Kerze im Augenblick von Pilars Tod aufgeflammt, als habe sie ein Luftzug erfasst? Der Geist, würde Adam Eins sagen. Energie, weder greifbar noch messbar. Pilars unermesslicher Geist. Dahin.
    Doch wenn der Geist in keiner Weise gegenständlich war, dann konnte er auch keine Kerzenflamme bewegen. Oder?
    Ich bin schon genauso verweichlicht wie die anderen, dachte Toby. Verfault wie ein Ei. Als Nächstes werde ich mit den Blumen reden. Oder mit den Schnecken, wie Nuala.
    Dennoch ging sie, um den Bienen Bescheid zu sagen. Sie kam sich idiotisch dabei vor, aber schließlich hatte sie

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