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Das Jahr der Flut

Das Jahr der Flut

Titel: Das Jahr der Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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für seine höheren Zwecke heimzurufen. Darf ich euch daran erinnern, wie wichtig es ist, unsere Pilze genau zu kennen; beschränkt eure Pilzaktivitäten auf bekannte Arten wie die Morellen, Schopftintlinge und Boviste − solche, die nicht zu verwechseln sind.
    Zu Lebzeiten hat Pilar unsere Pilzsammlung beträchtlich erweitert und um zahlreiche wildwachsende Arten ergänzt. Einige davon können bei euren Einkehrtagen der Meditation förderlich sein, aber bitte nehmt sie niemals, ohne euch vorher Rat einzuholen, und haltet Ausschau nach verräterischen Schirmen und Ringen − wir wollen kein weiteres Unglück dieser Art.«
    Empörung stieg in Toby auf − wie konnte Adam Eins Pilars mykologische Kennerschaft derart diskreditieren? Pilar wäre niemals ein solcher Fehler unterlaufen: Das musste den älteren Gärtnern doch klar sein.
    »Ich freue mich, euch verkünden zu dürfen«, fuhr Adam Eins fort, »dass sich unsere ehrwürdige Toby bereiterklärt hat, die Stelle der Eva Sechs zu übernehmen. Es war Pilars Wunsch, und ihr werdet mir sicher zustimmen, dass niemand für die Stelle geeigneter ist als sie. Ich selbst verlasse mich ganz und gar auf sie, etwa … in so vielen Dingen. Sie ist nicht nur mit fundiertem Wissen begabt, sondern auch mit Verstand, Charakterstärke und Herzensgüte. Aus diesem Grund fiel Pilars erste Wahl auf sie.« Leises Nicken und Lächeln in Tobys Richtung.
    »Es war der Wunsch unserer geliebten Pilar, im Heritage Park kompostiert zu werden«, fuhr Adam Eins fort. »In weiser Voraussicht hat sie sich den Strauch bereits ausgesucht, den wir über ihr einpflanzen sollen − einen prächtigen Holunder −, beizeiten ist bei unserer Nahrungssuche also mit einer Ausbeute zu rechnen. Wie ihr wisst, birgt inoffizielles Kompostieren ein erhebliches Risiko und wird mit schweren Strafen geahndet − die Außenhölle ist davon überzeugt, dass sogar der Tod reglementiert werden und, wichtiger noch, sich auszahlen müsse −, aber wir werden für das Ereignis alle Vorsichtsmaßnahmen ergreifen und mit Diskretion zu Werke gehen. In der Zwischenzeit können sich alle, die Pilar ein letztes Mal sehen möchten, in ihre Kabine begeben. Wer den Wunsch nach einer Blumengabe hat, dem empfehle ich die Kapuzinerkresse, die in dieser Jahreszeit üppig gedeiht. Bitte pflückt keine Knoblauchblüten, da wir sie für die Züchtung aufbewahren wollen.«
    Es gab ein paar Tränen und bei den Kindern regelrechtes Schluchzen − alle hatten Pilar geliebt. Dann gingen die Gärtner nacheinander davon. Einige lächelten Toby erneut zu als Zeichen ihrer Freude über die Beförderung. Toby selbst stand wie angewurzelt, denn Adam Eins hielt sie am Arm fest.
    »Verzeihung, liebe Toby«, sagte er, als die anderen weg waren. »Entschuldige meinen Exkurs ins Reich der Märchen. Manchmal muss ich Dinge sagen, die nicht durch und durch der Wahrheit entsprechen. Aber sie dienen dem Wohl der Allgemeinheit.«
    *
    Toby und Zeb wurden dazu ernannt, den Ort für Pilars Kompostierung zu bestimmen und die Grube vorzugraben. Zeit sei ein entscheidender Faktor, sagte Adam Eins. Die Gärtner hatten kein Kühlhaus, und das Wetter war warm, wenn sie Pilar also nicht bald kompostierten, bestand die Gefahr, dass die Natur ihnen zuvorkam.
    Zeb besaß ein paar Parkwärteruniformen − grüne Overalls und Hemden mit dem weißen Heritage-Park-Logo. Sie schlüpften hinein und machten sich mit klappernden Spaten und Harken, einer Hacke und einer Mistgabel auf der Pritsche ihres Lastwagens auf den Weg. Dass die Gärtner einen Lastwagen besaßen, war Toby neu, aber so war es. Es war ein Druckluft-Pick-up, den sie drüben in Sewage Lagoon in einem Kleintiergeschäft untergestellt hatten. Einem verlassenen Kleintiergeschäft − in Sewage Lagoon seien Verwöhnartikel für Haustiere nicht sonderlich gefragt, sagte Zeb, denn wer sich dort eine Katze halte, könne damit rechnen, dass sie über kurz oder lang in irgendeiner Fritteuse lande.
    Die Gärtner beschrifteten ihren Lastwagen je nach Bedarf, sagte Zeb. Im Moment prangte darauf das Heritage-Park-Logo, makellos gefälscht.
    »Es gibt jede Menge ehemalige Grafiker unter den Gärtnern«, sagte Zeb. »So wie es natürlich von allem jede Menge Ehemalige gibt.«
    Auf ihrer Fahrt durch Sinkhole trieben sie hupend die Plebsratten auseinander und verscheuchten jeden, der sich zum Scheibenputzen aufdrängte. »Hast du so was schon mal gemacht?«, fragte Toby.
    »Mit ›so was‹ meinst du alte Damen illegal in

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