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Das Jahr der Flut

Das Jahr der Flut

Titel: Das Jahr der Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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es versprochen. Sie erinnerte sich daran, dass es nicht reichte, in Gedanken Kontakt aufzunehmen: Man musste es laut aussprechen. Bienen waren die Boten zwischen dieser Welt und den anderen Welten, hatte Pilar immer gesagt. Zwischen den Lebenden und den Toten. Die Träger des luftgewordenen Wortes.
    Toby bedeckte ihren Kopf − wie es Brauch war, hatte Pilar behauptet − und stellte sich vor die Bienenstöcke des Dachgartens. Die Bienen flogen herum wie immer, kamen und gingen, brachten ihre Beinladungen Pollen, tanzten ihre zuckenden Achterknotentänze. Aus dem Inneren der Stöcke drang das Summen der Flügel, während sie ventilierten, die Luft kühlten, die Waben und Straßen belüfteten. Eine Biene ist gleich alle Bienen, hatte Pilar immer gesagt, was dem Bienenstock dient, dient den Bienen.
    Einige Bienen umkreisten ihren Kopf in ihrem goldenen Pelz. Drei ließen sich auf ihrem Gesicht nieder, kosteten von ihrer Haut.
    »Bienen«, sagte sie. »Ich muss euch etwas berichten. Sagt es eurer Königin weiter.«
    Hörten sie zu? Vielleicht. Sanft knabberten sie am Rand ihrer getrockneten Tränen. Wegen des Salzgehalts, würde ein Wissenschaftler sagen.
    »Pilar ist tot«, sagte sie. »Sie sendet euch ihre Grüße und ihren Dank für eure langjährige Freundschaft. Wenn eure Zeit gekommen ist, ihr zu folgen, wohin sie gegangen ist, wird sie euch dort empfangen.« Es waren die Worte, die sie von Pilar gelernt hatte. Sie kam sich außerordentlich bescheuert war, sie laut auszusprechen. »Bis dahin bin ich eure neue Eva Sechs.«
    Niemand hörte ihr zu, aber selbst wenn, hätte es niemanden gewundert hier oben auf dem Dachgarten. Unten am Boden dagegen hätte man sie für verrückt erklärt, für eine dieser Frauen, die durch die Straße irren und Selbstgespräche führen.
    *
    Pilar hatte den Bienen jeden Morgen die Neuigkeiten überbracht. Würde von Toby dasselbe erwartet? Ja, so war es wohl. Es gehörte zu den Aufgaben der Eva Sechs. Enthielte man den Bienen die Neuigkeiten vor, sagte Pilar, wären sie gekränkt, würden ausschwärmen und woanders hinfliegen. Oder sterben.
    Die Bienen auf ihrem Gesicht zögerten: Vielleicht spürten sie, wie sie zitterte. Aber sie waren imstande, Trauer von Angst zu unterscheiden, denn Toby wurde nicht gestochen. Kurz darauf hoben sie ab und flogen davon, um mit der kreisenden Menge über den Stöcken zu verschwimmen.
     
    35.
     
    Als sie sich zusammengerissen und ihre Gesichtszüge geordnet hatte, ging Toby zu Adam Eins und sagte ihm Bescheid. »Pilar ist tot«, sagte sie. »Sie hat es selbst getan.«
    »Ja, meine Liebe, ich weiß«, sagte Adam Eins. »Wir haben darüber gesprochen. Sie hat den Engel des Todes genommen und dann den Schlafmohn?« Toby nickte. »Aber − das ist eine sensible Angelegenheit, und ich zähle auf deine Diskretion − sie war dagegen, dass sämtliche Gärtner die ganze Wahrheit erfahren. Die letzte Reise aus freien Stücken anzutreten ist nur für erfahrene Menschen und, wie ich sagen muss, für unheilbar Kranke wie Pilar eine moralische Option; aber sie ist keine, die wir popularisieren sollten − vor allem nicht unter unseren jungen Leuten, die leicht zu beeinflussen sind und sich gern in krankhaften Grübeleien und falschen Heldentaten ergehen. Ich nehme an, du hast Pilars Arzneien an dich genommen? Wir müssen alles tun, um Unfälle zu vermeiden.«
    »Ja«, sagte Toby. Ich muss mir eine Kiste anfertigen lassen, dachte sie. Aus Metall. Mit einem Schloss.
    »Und du bist jetzt Eva Sechs«, sagte Adam strahlend. »Ich bin so glücklich, meine Liebe!«
    »Darüber hast du vermutlich auch mit Pilar gesprochen«, sagte Toby. Die ganze Sache mit der Vigil war eingefädelt gewesen, um Zeit zu gewinnen, dachte sie. Mich so lange hinzuhalten, bis Pilar die Sache klargemacht hatte.
    »Es war ihr innigster Wunsch«, sagte Adam Eins. »Sie hatte so viel Liebe und Respekt für dich.«
    »Und ich hoffe, eine würdige Nachfolgerin zu sein«, sagte sie.
    Die beiden hatten sie in die Falle gelockt. Was sollte sie sagen? Und so schlüpfte sie in ihre rituelle Aufgabe wie in ein Paar steinerne Schuhe.
    *
    Adam Eins berief eine Gärtnerversammlung ein, wo er eine Lügenrede hielt. »Unglückseligerweise«, begann er, »ist unsere liebe Pilar − Eva Sechs − heute früh nach einer falschen Artenidentifizierung auf tragische Weise verschieden. Sie konnte sich etliche Jahre fehlerloser Praxis zugutehalten − aber vielleicht war dies nun Gottes Weg, unsere geliebte Eva Sechs

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