Das Jahr der Flut
gewieft, diese Amanda. Allzu vertraut mit den Sitten der Außenhölle. Wobei Adam Eins ja glaubte, die Gärtner hätten ihr außerordentlich gutgetan, und wer wollte behaupten, Amanda habe sich nicht von Grund auf verändert?
Dennoch, es war keine glückliche Fügung, dass es Ren in Amandas allzu attraktive Umlaufbahn hineingerissen hatte. Ren war übermäßig formbar − sie lief Gefahr, sich ewig unterbuttern zu lassen.
»Welchen Teil der Weide verwenden wir zur Herstellung des Analgetikums?«, fuhr sie fort.
»Die Blätter?«, sagte Ren. Zu gefallsüchtig, mal abgesehen davon, dass die Antwort falsch war, und noch eifriger als sonst. Dass Bernice nicht mehr da war, musste Ren zu schaffen machen, vielleicht war es auch ihr Gewissen: Wie unbarmherzig Bernice abserviert wurde, nachdem Amanda auf der Bildfläche erschienen war. Sie glauben, wir hätten keine Ahnung, dachte Toby. Sie glauben, wir wüssten nicht, was sie treiben. Ihre Hochnäsigkeiten, ihre Grausamkeiten, ihre Intrigen.
Nuala steckte den Kopf durch die Tür. »Toby, meine Liebe«, sagte sie. »Könnte ich dich einen Augenblick sprechen?« Ihr Ton verhieß nichts Gutes. Toby trat hinaus auf den Flur.
»Was ist denn passiert?«, fragte sie.
»Du musst zu Pilar«, sagte Nuala. »Sofort. Sie hat beschlossen, dass es so weit ist.« Toby spürte, wie sich ihr Herz zusammenzog. Pilar hatte sie angelogen. Nein, nicht angelogen; sie hatte ihr nur nicht die ganze Wahrheit erzählt. Sie hatte tatsächlich etwas Falsches gegessen, aber nicht aus Versehen.
Nuala drückte Tobys Arm, um ihr tiefes Mitgefühl zu bekunden. Nimm deine feuchten Hände weg, dachte Toby, bin ich etwa ein Kerl?
»Könntest du meine Klasse übernehmen?«, sagte sie. »Bitte. Wir nehmen gerade die Weide durch.«
»Selbstverständlich, liebe Toby«, sagte Nuala. »Ich werde mit ihnen ›Die Trauerweide‹ singen.« Dieses überzuckerte Lied gehörte zu Nualas Lieblingsmelodien; sie hatte es für die ganz Kleinen komponiert. Die älteren Kinder wüden die Augen verdrehen. Aber da Nuala wirklich nicht viel von Botanik verstand, würde sie mit der Singerei zumindest die Stunde herumbringen.
Toby eilte davon, während Nuala verkündete: »Toby wurde zu einem Gnadenauftrag gerufen, also wollen wir ihr beistehen, indem wir das Lied von der Trauerweide singen!« Ihre penetrante, etwas flache Altstimme erhob sich über den lustlosen Stimmen der Kinder:
Trauerweide, Trauerweide, Äste wehen wie das Meer,
Schmerzen habe ich und leide, wünsche mir mein Bäumlein
her …
Nualas Liedtexte bis in alle Ewigkeit, dachte Toby, das wäre die Hölle schlechthin. Außerdem war es gar nicht die Trauerweide, sondern die Silberweide,
salix
alba
, mit ihrer Salicylsäure. Die war es, die den Schmerz bekämpfte.
*
Pilar lag in ihrer Kabine auf dem Bett, die Bienenwachskerze brannte noch immer in ihrer Blechdose. Sie streckte die hageren braunen Finger aus. »Liebste Toby«, sagte sie. »Danke, dass du gekommen bist. Ich wollte dich sehen.«
»Du hast es selbst getan«, sagte Toby. »Und ohne mich einzuweihen!« Sie war so traurig, dass sie wütend war.
»Ich wollte nicht, dass du deine Zeit mit Kummer vertust«, sagte Pilar. Ihre Stimme war nur noch ein Flüstern. »Ich wollte, dass du schön deine Vigil feierst. Nun komm und setz dich zu mir und erzähl mir, was du gestern Nacht gesehen hast.«
»Ein Tier«, sagte Toby. »Eine Art Löwe, aber keinen richtigen Löwen.« »Gut«, flüsterte Pilar. »Das ist ein gutes Zeichen. Es wird dir Kraft geben, wenn du sie brauchst. Gut, dass es keine Nacktschnecke war.« Sie gab ein schütteres Lachen von sich; dann verzog sie gequält das Gesicht.
»Warum?«, fragte Toby. »Warum hast du das getan?«
»Ich habe die Diagnose bekommen«, sagte Pilar. »Es ist Krebs. In fortgeschrittenem Stadium. Deswegen gehe ich am besten jetzt, solange ich noch weiß, was ich tue. Wozu ausharren?«
»Welche Diagnose?«, fragte Toby.
»Ich habe einige Biopsie-Proben eingeschickt«, sagte Pilar. »Katuro hat mir den Gefallen getan und die Gewebeproben entnommen. Wir haben sie in einem Honigglas in die Diagnostiklabore von HelthWyzer-West geschickt − natürlich unter falschem Namen.«
»Wer hat sie geschmuggelt?«, sagte Toby. »Zeb?«
Pilar lächelte in sich hinein. »Ein Freund«, sagte sie. »Wir haben viele Freunde.«
»Wir können dich in ein Krankenhaus bringen«, sagte Toby. »Ich bin mir sicher, Adam Eins würde zustimmen, dass …«
»Bleib standhaft,
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