Das Jahr der Kraniche - Roman
dankbar sein konnte, dass alles so ausgegangen war, dass er mit Julia niemals hätte glücklich werden können. Die Wut, die er auf sie hatte, war mit den Jahren geringer geworden. Die Kränkung aber war geblieben. Niemals, mit keinem Gedanken hatte er daran gedacht, dass Julia daran gehindert worden sein könnte, zu ihm zu kommen.
Als der Notarzt kam, hatte die Wirkung des Medikaments schon ein wenig nachgelassen. Hanno konnte seine Beine schon wieder bewegen. Trotzdem wurde er ins Krankenhaus geschafft.
»Such sie. Du musst sie suchen. Sie darf es nicht noch einmal tun.«
Jan raste mit dem Auto durch den Wald. Der Hund saß auf dem Beifahrersitz und wurde hin und her geschleudert, wenn Jan den Schlaglöchern auswich. Das Moor war groß. Wo sollte er anfangen zu suchen? Er versuchte sich zu konzentrieren, zu überlegen, wo er als Kind mit Elke am liebsten gespielt hatte. Das konnte doch alles nicht wahr sein. Er hatte das Gefühl, sich in einem Film zu befinden. Das konnte nicht das wirkliche Leben sein. Als die Räder des Wagens in einem Wasserloch versanken, sprang er aus dem Auto. Shadow raste an ihm vorbei in das Moor.
Obwohl der Tag angebrochen war, war es jetzt still und dämmrig. Hier im Moor, wo die Natur seit Langem sich selbst überlassen war, wo Büsche und Bäume kreuz und quer wuchsen, wo tote Bäume einfach umfielen und den Bibern jede Menge Unterschlupfmöglichkeiten boten, wo höchstens mal ein Naturkundler herumstreifte, um wissenschaftliche Beobachtungen zu machen, würde niemand Laura finden. Ebenso wenig, wie sie Julia gefunden hatten.
Elke zog an der Schnur, die sie um Lauras rechtes Bein geschlungen hatte.
»Wir sind da.«
Nein! Ich will nicht sterben. Das kann nicht sein, dass das das Ende ist.
Was würde sie tun? Sie einfach wieder fesseln und liegen lassen? Oder würde sie sie in dem Tümpel, der vor ihnen lag, ertränken?
»Bitte, tu das nicht. Du bist doch keine Mörderin. Elke, bitte. Sei doch vernünftig.«
Elke fühlte den Triumph in sich hochsteigen. Laura hatte doch keine Ahnung. Natürlich war sie keine Mörderin. Sie wollte nur die Ordnung wiederherstellen. Wollte, dass endlich wieder Ruhe einkehrte. Das war kein Mord, das war Gerechtigkeit. Laura hatte sich in ihr Leben gedrängt. Sie war dabei, alles zu zerstören. Wie sie da stand und um ihr Leben bettelte, um ihr armseliges, unbedeutendes kleines Leben!
»Du willst doch Jan nicht unglücklich machen. Er wird verzweifeln, wenn er mich verliert. Und sein Kind. Du hast doch gesehen, wie er sich auf sein Kind freut.«
Laura suchte verzweifelt nach Argumenten.
»Was weißt du schon von Jan? Du kennst ihn seit ein paar Monaten. Du hast doch keine Ahnung, wie es in ihm aussieht.«
»Er wird dir nie verzeihen, was du getan hast.«
»Er wird es nie erfahren.«
»Er liebt mich. Ich bin seine Frau.«
»Wie kann man sich nur so wichtig nehmen! Er wird eine andere finden. Er wird dich vergessen, so wie er Julia vergessen hat. Und jetzt halt den Mund. Es ist vorbei.«
Sie zog die zweite Spritze aus der Tasche.
Laura begriff. Sie würde sie lähmen und dann ins Wasser werfen, und sie würde ertrinken. Das Moor würde sie verschlingen.
Das leise Geräusch lenkte Elke einen Moment lang ab. Laura sah den Geisterkranich, der hinter ihr auftauchte und sofort wieder im Dämmerlicht verschwand.
Sie schlug Elke mit den gefesselten Händen die Spritze aus der Hand.
»Hilfe! Ich bin hier! Hilfe!«
Sie wollte losrennen. Doch Elke fand die Schnur, die sie um Lauras Bein gebunden hatte. Sie zog sie mit einem Ruck an. Laura stürzte. Elke suchte hektisch nach der Spritze, die ihr aus der Hand gefallen war, konnte sie aber nicht finden. Laura versuchte sich aufzurappeln. Elke war über ihr und drückte Lauras Gesicht unter Wasser.
Jan, schrie es in Laura, hilf mir doch!
Sie spürte, wie ihre Sinne schwanden.
Jan!
Es wurde schwarz um sie. Sie raste in einen Abgrund, immer schneller. Es sauste und brauste. Sie drehte sich um sich selbst. Das Licht tief unten– es war grell, blendete sie so sehr, dass sie die Augen schließen musste. Gleich würde es sie verschlingen, würde sie in ihm untergehen. Es war vorbei.
»Laura! Um Gottes willen, Laura, wach auf! Laura, ich bin da. Es ist alles gut. Bitte, sieh mich an.«
Jan war da? Aber es war zu spät. Sie war schon auf der anderen Seite.
»Es tut mir leid, Jan. Ich wollte das nicht. Jan, mein Liebster, es tut mir so leid.«
Sie spürte einen Druck auf ihrer Brust. Wasser brach aus
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