Das Jahr der Kraniche - Roman
besorgt.
»Bist du gegen Tollwut geimpft?«
Er sah argwöhnisch zu dem Tier hinüber. Der schwarze Hund lag ruhig da, den Kopf auf seine Vorderpfoten gelegt. Er ließ Hanno und Peter nicht aus den Augen.
»Hast du ihn hier vorher schon mal gesehen?«
Hannos Stimme klang merkwürdig dünn. Peter schüttelte den Kopf. Als Briefträger kannte er alle Hunde hier in der Gegend. Mit dem einen oder anderen hatte er auch schon mal nähere Bekanntschaft gemacht. Aber dieser schwarze? Er erinnerte sich nicht daran, ihn hier jemals gesehen zu haben.
Erleichtert hörte er ein Auto durch den Wald herankommen. Marius sprang heraus, eilte auf sie zu und kniete schon bei Hanno.
»Vollkommen unnötig, dass du deine Praxis im Stich lässt«, knurrte Hanno, als sich Marius über ihn beugte und dabei seinen Puls fühlte.
»Mir ist nur ein bisschen schwindlig. Hab wahrscheinlich letzte Nacht zu wenig geschlafen.«
Während Marius Hanno untersuchte, schilderte Peter, wie er ihn gefunden hatte.
»Er lag einfach da. Direkt vor der Treppe. Ich hab zuerst gedacht, er sei tot.«
Erschrocken hielt er inne.
»Ich meine, ich hab ja noch nie einen Toten gesehen, aber er hatte die Augen geschlossen und hat nicht geantwortet.«
Marius fragte, wie lange Hanno ohne Bewusstsein gewesen war. Der Blutdruck war deutlich zu niedrig. Aber das Herz schlug ganz normal. Er würde ihn mit in die Praxis nehmen und gründlich durchchecken.
»Ach, was. Mir geht’s gut. Ich leg mich ein bisschen hin, und dann ist alles wieder…«
Marius ließ Hannos Einwand nicht gelten.
»Keine Widerrede. Ich untersuch dich gründlich, und dann kannst du von mir aus nach Hause gehen. Oder besser, du kommst zu uns. Elke wird sich um dich kümmern.«
Er half Hanno auf die Beine und führte ihn zum Auto. Auch wenn Hanno ihm vormachen wollte, dass alles in Ordnung war, entging Marius nicht, wie er sich an ihm festklammerte.
Als er Hanno gerade auf den Beifahrersitz verfrachtet hatte, kamen Jan und Laura herangefahren. Jan stand die Sorge ins Gesicht geschrieben.
»Was ist mit ihm?«
»Nichts. Jetzt hört doch auf, so einen Wind zu machen. Ich bin ein alter Mann, da kann einem schon mal die Puste ausgehen.«
Jan sah Marius fragend an. Hinter ihm stand jetzt Laura.
»Sieht nach einem kleinen Kreislaufkollaps aus. Ich werde ihn gründlich durchchecken. Mach dir keine Sorgen, Jan.«
Jan bot sich an, Hanno und Marius zu begleiten. Es gelang ihm nicht zu verbergen, wie besorgt er war. Doch Marius beruhigte ihn, das sei wirklich nicht nötig. Er schloss die Beifahrertür, stieg selbst ins Auto und fuhr davon. Im Rückspiegel sah er, wie Jan den Arm um Julia legte und sie zusammen aufs Haus zugingen. Moment– hatte er das gerade wirklich gedacht? Julia? Marius schloss kurz die Augen. Irritiert schüttelte er den Kopf. Er atmete tief ein und aus, versuchte, ruhig zu werden, konnte aber doch nicht verhindern, dass sein Herz sich zusammenzog in der Erinnerung, die ihn einfach überwältigte. Der Erinnerung an ein Paar strahlend blauer Augen und das Versprechen, das in ihnen gelegen hatte.
Alle Untersuchungen ergaben, dass Hanno physisch vollkommen gesund war. Der Blutdruck hatte sich normalisiert, das EKG zeigte keinerlei Auffälligkeiten, und die Lungenfunktion war für einen Mann in Hannos Alter geradezu hervorragend.
»Ich hab dir doch gesagt, dass ich in Ordnung bin.« Hanno zog sich das Hemd wieder an. »Viel Lärm um nichts«.
Es war ihm peinlich, Marius ’ Zeit gestohlen zu haben.
Als Marius ihn nach seiner Schlaflosigkeit befragte, wiegelte er ab.
»Senile Bettflucht nennt man das doch. In meinem Alter braucht man eben nicht mehr so viel Schlaf. Das weißt du doch.«
Er sagt mir nicht alles. Marius kannte das auch von anderen Patienten. Vor allem von Männern, die zeit ihres Lebens kräftig und gesund gewesen waren. Sie konnten sich nicht damit abfinden, älter zu werden, wollten sich nicht damit auseinandersetzen, dass ihr Körper nicht mehr so wollte wie ihr Geist. Auf jeden Fall nahm er Hanno noch Blut ab. Er wollte sichergehen, dass er nichts übersah.
»Am besten sagst du Elke nichts von dem Vorfall. Ich will nicht, dass sie sich Sorgen macht. Frauen machen sich doch immer gleich Sorgen, und dann werden sie ziemlich… aufdringlich.«
Und das konnte Hanno nicht brauchen. Er mochte es nicht, dass sich jemand um ihn sorgte. Und schon gar nicht seine Tochter. Dass er für sie da war, das war das Normale. Väter hatten sich um ihre Kinder zu kümmern.
Weitere Kostenlose Bücher