Das Jahr der Kraniche - Roman
Hände umklammerten das Lenkrad so fest, dass seine Knöchel weiß heraustraten. Natürlich war Hanno ein alter Mann. Natürlich würde er eines Tages sterben. Aber doch noch nicht jetzt. Hanno war für ihn so etwas wie ein Anker in seinem alten Leben. Er brauchte ihn. Er durfte ihn nicht verlieren. Nicht jetzt.
Marius drückte das Gaspedal ganz herunter, raste zwischen den Seen und den frisch gepflügten Äckern hindurch in Richtung Jägerhaus. Die Entfernung betrug zwar nur knapp zwanzig Kilometer, aber sobald er von der Bundesstraße abbog, konnte er nur noch höchstens fünfzig fahren, die letzten paar Kilometer durch den Wald sogar noch weniger, wenn er nicht wollte, dass seine Achsen das Opfer eines der tiefen Schlaglöcher wurden. Der Postbote, der Hanno gefunden hatte, war trotz seiner Aufregung in der Lage gewesen, ihm am Telefon die Symptome zu schildern: blasse Haut, Bewusstlosigkeit, flacher Atem. Nur– das konnte alles sein, vom Kreislaufkollaps über einen Schlaganfall bis zu einem Herzinfarkt. Soweit er wusste, war Hanno gesund, wenn man mal von ein paar Alterszipperlein absah. Allerdings kam er auch nicht regelmäßig zum Check-up. Einen Moment lang blitzte die Vision von einer Beerdigung durch Marius ’ Gedanken: der Waldfriedhof bei Templin, die schönen alten Buchen, der Baum, den Hanno ihnen schon vor zwei Jahren gezeigt hatte, kurz nachdem die Stadt den Wald zum Friedwald umgewidmet hatte. Aus einem MP 3-Player ist eine Bachkantate zu hören. Elke bettet eine Urne in ein Loch zu Füßen des Baums und bricht weinend zusammen…
Blödsinn, so weit war es noch lange nicht. Trotzdem musste sich Marius eingestehen, dass er sich vor dem Tag fürchtete, an dem Hanno sterben würde. Natürlich, weil er seinen Schwiegervater sehr schätzte und er ihm fehlen würde. Viel mehr aber machte ihm Sorgen, wie Elke es verkraften würde, ihren Vater zu verlieren. So stabil sie in den letzten Jahren geworden war– die Verbindung, die zwischen ihr und ihrem Vater bestand, war stark und band die beiden eng aneinander. Würde sie wanken, wenn er plötzlich fehlte? In die Knie gehen? Würde er dann in der Lage sein, sie aufzufangen und zu stützen? Wie so oft hatte Marius ein schlechtes Gewissen, wenn er an Elke dachte. Wusste sie, dass er vor allem deswegen dankbar war, dass Hanno sich so um sie kümmerte, weil er selbst sich überfordert fühlte? Ahnte sie, wie oft er darüber nachgedacht hatte, sie zu verlassen, und es nur deshalb nicht getan hatte, weil er fürchtete, dass es ihm woanders auch nicht besser gehen würde? Er hatte seine Chance gehabt. Aber er hatte sie nicht genutzt. Noch einmal würde sich ihm so eine Gelegenheit nicht bieten. Das wusste er. Und deshalb war er hier. Und deshalb würde er sein Leben nicht ändern. Er hatte sich damals für Elke entschieden. Und auch wenn er es inzwischen bereut haben sollte– er hatte sich in ihrem gemeinsamen Leben arrangiert. Das zeugte möglicherweise von einer gewissen Feigheit. Aber in guten Tagen nannte er es einfach einen gesunden Sinn für die Realität. Elke war eine hübsche, liebenswürdige Frau, die ihn über alles liebte. Dass er ihre Liebe schon lange nicht mehr erwiderte, musste einfach keine Rolle spielen. Er ging wenigstens nicht allein durchs Leben.
»Hanno! Hörst du mich? Jetzt komm schon, Mann, mach die Augen auf.«
Hanno spürte, dass jemand an seinen Schultern rüttelte. Er kannte diese Stimme.
»Peter?«
Als er die Augen öffnete, sah er in die besorgten Augen des jungen Briefträgers.
»Mann, du kannst einem aber einen Schrecken einjagen. Ist alles in Ordnung?«
Hanno nickte. Als er versuchte, sich aufzusetzen, machte der Boden unter ihm einen Hüpfer. Er schloss die Augen sofort wieder. Seine Hände krallten sich in Peters Postbotenjacke.
»Alles okay«, presste er heraus. »Mir ist nur ein bisschen wacklig.«
»Bleib liegen. Doktor Berg müsste gleich hier sein.«
»Du hast Marius alarmiert? Mensch, Peter, was für ’n Quatsch.«
»Keine Ursache«, grinste der rothaarige Postbote ihn an.
Hanno versuchte sich zu erinnern, was eigentlich passiert war. Der Hund! Er hatte doch Pogo gesehen, Jans Hund. Das konnte er sich doch nicht eingebildet haben.
»Wo ist der Hund?« Er versuchte aufzustehen.
»Liegenbleiben, hab ich gesagt. Der Hund liegt brav vor der Haustür. Ist das deiner?«
Den Hund gab es also tatsächlich. Unwillkürlich fasste er sich ans Bein.
»Er hat dich doch nicht gebissen?«
Peters Blick war
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