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Das Jahr der Kraniche - Roman

Das Jahr der Kraniche - Roman

Titel: Das Jahr der Kraniche - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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versucht, mit Elke über andere Möglichkeiten zu sprechen. Doch Elke hatte sich vehement dagegen gewehrt, ein Kind aufzuziehen, das nicht ihr eigenes war.
    »Es soll unser Kind sein. Ein Kind, das aus unserer Liebe entsteht. Das unsere Gene trägt.«
    Sie hatte sich geweigert, auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken, ein fremdes Kind in ihr Leben zu holen. Sie hatte nicht hören wollen, als er ihr erklären wollte, dass dieses Kind doch wie ihr eigenes sein würde. Dass es nicht auf die Abstammung ankomme, sondern darauf, mit wem das Kind lebte, wer es liebte, wer sich um es sorgte, wer es erzog und aufs Leben vorbereitete.
    »Das ist nicht dasselbe. Es würde mich immer daran erinnern, dass ich versagt habe. Jedes Mal, wenn ich es ansehen würde, würde ich daran denken, dass eine andere Frau besser ist als ich. Ich würde es ihm nicht verzeihen, dass ich nicht in der Lage war, es selbst auszutragen und zu gebären.«
    Sie hatte sich allen Argumenten gegenüber verschlossen. Und schließlich hatten sie sich eingeredet, dass auch ein Leben ohne Kinder erfüllt sein konnte, solange sie einander nur liebten. Und mit der Zeit hatte die Stille in ihrem Haus Einzug gehalten, eine Stille, die Marius eines Tages als so unerträglich empfand, dass er darüber nachgedacht hatte, Elke zu verlassen. Und es am Ende doch nicht getan hatte.
    Möglicherweise müssen wir einfach wieder anfangen, darüber zu reden. Vielleicht ist sie ja jetzt bereit, ein Kind anzunehmen, das nicht das ihre ist.
    Er musste sie dazu bringen, noch einmal darüber nachzudenken. Er würde ihr ausmalen, wie hell ihr Leben wieder werden würde, wenn sie ein Kind hatten. Wie gut es ihnen zusammen gehen, wie fest sie dadurch miteinander verschweißt sein würden. Und wenn sie sich trotzdem weigerte? Marius wusste darauf keine Antwort.
    Marius konnte gerade noch bremsen, als die Frau auf die Hauptstraße taumelte. Ihr hellblaues Nachthemd leuchtete im Licht seiner Scheinwerfer. Neben ihr tauchte der schwarze Hund auf.
    »Laura?«
    Er riss die Autotür auf. Sie sah ihn an. Mitten auf der Straße stand sie da in diesem dünnen Hemd, das, wie er erkannte, ziemlich verschmutzt war. An der Seite klaffte ein Riss und entblößte ihre Beine, an denen aus einigen langen Kratzern das Blut hinabrann.
    »Laura, was ist denn passiert?«
    Sie blinzelte ins Scheinwerferlicht.
    »Wer sind Sie? Helfen Sie mir!«
    Natürlich, sie konnte ihn im Gegenlicht nicht erkennen. Er achtete darauf, dass er das Scheinwerferlicht verdeckte, als er auf sie zuging. Der Hund knurrte leise. Marius konnte erkennen, wie sich seine Nackenhaare aufstellten.
    »Ich bin es, Marius.«
    »Marius?«
    Er sah, dass sie am ganzen Körper bebte. Als er sich ihr näherte, wurde das Knurren des Hundes lauter. Er stellte sich vor Laura hin, als wollte er sie beschützen.
    »Reg dich ab, Shadow, du kennst mich doch.«
    Er hielt dem deutlich unter Spannung stehenden Hund die Hand hin. Der zögerte einen Moment, dann schnüffelte er an Marius ’ Hand und wurde auf der Stelle ruhig.
    »Na, siehst du, alles in Ordnung. Ich tu deinem Frauchen doch nichts.«
    Er schlüpfte aus seiner Leinenjacke und legte sie ihr um die Schultern. Dabei spürte er, wie sie unter seiner Berührung zusammenzuckte.
    »Ich komme gerade von einem Patientenbesuch. Was machst du denn hier um diese Zeit?«
    Er versuchte, seiner Stimme einen normalen, fast beiläufigen Klang zu geben. Ihre Pupillen waren fast schwarz, ihre Augen weit aufgerissen. Irgendwas Schreckliches musste passiert sein.
    »Du bist ja ganz durchgefroren. Komm, ich bring ’ dich nach Hause und mache dir einen Tee.«
    Sie war eindeutig vollkommen durcheinander. Möglicherweise stand sie auch unter Schock. Ihr Blick war unstet, ihre Haut blass, ihr Atem ging schnell. Marius tastete nach ihrem Puls; der raste. Was war nur mit ihr geschehen?
    Laura fühlte das Kratzen der Leinenjacke auf ihren nackten Armen. Wo war sie? Was machte Marius hier? Ihre Füße waren so kalt. Und sie fror so sehr. Sie sah an sich hinunter. Sie stand barfuß und im Nachthemd mitten auf der Straße nach Templin.
    »Was ist passiert?«
    Ihre Zähne schlugen aufeinander. Ihre Beine zitterten. Sie schlang die Arme um sich. Das musste aufhören. Sie musste aufhören zu zittern.
    »Ich weiß es nicht. Du bist plötzlich auf die Straße gelaufen. Ich hab dich im letzten Moment gesehen.«
    »Aber was mach ich denn hier? Wieso…«
    Sie sah sich durch den Wald rennen, Äste schlugen ihr ins Gesicht.

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