Das Jahr der Kraniche - Roman
Marius griff nach ihren Armen und verhinderte, dass sie umkippte.
»Wo bleibt ihr denn? Michael kann es kaum erwarten, meinen Rhabarber…«
Elke trat in die Küche.
»Was macht ihr denn da?«
Marius war sofort auf den Beinen.
»Nichts. Ich meine, ich habe die Zuckerdose fallen lassen, und Laura muss jetzt die Schweinerei auffegen.«
»Mein kleiner Tollpatsch. Ich hätte dir nicht erlauben sollen, die Küche zu betreten. Tut mir leid, Laura. Marius ist in manchen Dingen so ein Macho.«
Laura lachte auf.
»Du meinst, es ist zu viel von ihm verlangt, den Zucker aus dem Regal zu holen?«
Die beiden Frauen kicherten, wie Frauen so kichern, die sich über einen Mann lustig machen.
»Lacht nur über mich. Zucker ist sowieso ungesund.«
Marius nahm kurzerhand das Tablett und verließ damit die Küche. Elke sah ihm lächelnd hinterher.
»Der Arme. Im Haushalt hat er einfach zwei linke Hände… Vielleicht liebe ich ihn genau deswegen.«
Sie öffnete für Laura die Tür des Unterschranks, in dem der Mülleimer stand. Laura schüttete den Zucker, den sie aufgefegt hatte, hinein und füllte die Zuckerdose neu auf.
»Du meinst, wir lieben sie für ihre Defizite?«
»Natürlich tun wir das. Jede Schwäche macht sie doch liebenswerter. Oder könntest du dich in so einen tadellosen Perfektionisten verlieben, an dem es nichts zu kritisieren gibt? Das wäre doch trostlos langweilig. Mal ganz abgesehen davon, dass sie auch uns wegen unseren kleinen Unperfektheiten lieben.«
Stimmt ja. Irgendwie hat sie recht. Ich hab ja auch das Gefühl, dass ich Jan noch mehr liebe, seit ich weiß, dass er Angst hat, mich zu verlieren, und mir deswegen nichts von Julia erzählt hat.
Es hatte sie gerührt, diese schwache Seite an Jan zu erkennen. Dass er verletzbar war, machte ihn noch liebenswerter. Vielleicht, weil es ihn menschlicher machte. Vielleicht, weil es den Beschützerinstinkt in ihr ansprach. Vielleicht, weil sie noch mehr spürte, dass er sie brauchte.
Jans Blick lag stolz auf ihr, als sie mit Elke zurück ins Wohnzimmer kam, wo Marius gerade die Schälchen mit dem Dessert auf dem Tisch verteilte. Sie küsste ihn auf die Wange, bevor sie sich neben Michael Persius setzte, der inzwischen sein iPad geholt hatte, auf dem eines seiner Fotos zu sehen war.
»Das Essen war großartig. Woher haben Sie gewusst, dass ich Schmorbraten liebe?«
»Alle Männer lieben Schmorbraten. Vielleicht, weil er sie an ihre Kindheit erinnert, wenn die Mutter sonntags für die Familie immer groß aufgekocht hat.«
Sie freute sich, dass Michael Persius sich in ihrem Haus so wohl fühlte. Er war geradezu sprachlos gewesen, als er das Haus betreten hatte, um dann in Bewunderungsrufe auszubrechen. So wie das Haus sich jetzt präsentierte, habe es nichts mehr mit dem düsteren Kasten zu tun, den er vor Jahren kennengelernt hatte.
»An Ihnen ist eine Innenarchitektin verloren gegangen. Hier stimmt ja einfach alles.«
Laura hatte sich über sein Lob gefreut. Und vor allem darüber, dass Michael Persius auf den ersten Blick erkannt hatte, wie sehr das Haus jetzt zu ihr passte. Im Gegensatz zu Elke, die zwar sagte, dass ihr die Veränderungen gefielen, die aber auch betonte, dass das Haus ihr auch vorher gut gefallen hatte, war Michael Persius vor Begeisterung fast explodiert.
Es war ein schöner Abend geworden. Lauras Essen war von allen in den höchsten Tönen gelobt worden, der Wein, den Jan besorgt hatte, war hervorragend, die Gespräche hatten sich um Architektur und Fotografie gedreht und um die Freude von Städtern am Landleben. Die Stimmung war aufgeräumt und entspannt.
Genau so hab ich mir das vorgestellt. Das werde ich ab jetzt öfter machen.
Laura lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. Sollte sie jemals daran gezweifelt haben, dass sie eine gute Gastgeberin sein konnte, hatte sich heute Abend dieser Zweifel in Luft aufgelöst. Alles war so gelaufen, wie sie es sich gewünscht hatte. Wenn man mal von dem kleinen Missgeschick in der Küche absah. Sie trank einen Schluck Wein, während sie Jans Erzählung über einen Opernbau lauschte, den er in Kuala Lumpur erstellt hatte. Und plötzlich spürte sie Marius ’ Blick auf sich. Als sie ihn ansah, sah er weg, als hätte sie ihn bei etwas Unschicklichem ertappt.
»Auf jeden Fall ist es eine Bereicherung für die deutsche Architektur, wenn Sie wieder anfangen, hier zu bauen.« Michael Persius erwies sich als jemand, der durchaus etwas von Architektur verstand, und offensichtlich freute er
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