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Das Jahr der Maus

Das Jahr der Maus

Titel: Das Jahr der Maus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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als Ihnen meine Gedanken und Beobachtungen zu übermitteln, wenn diese große Reise in Schwung kommt. Einfach für mich. (Vielleicht nicht so einfach für Sie.) Was kann man mir schließlich antun? Mich irgendwie aus dem Hyperraum zur Erde zurückschleppen? »Tut uns leid, wir wollten von Ihnen förmlichere Berichte. Wir hatten etwas anderes im Sinn, als wir Sie zum Chronisten ernannten.«
    Nicht wahrscheinlich.
    Wer weiß, wann, wo oder wie Sie das lesen. Vielleicht kommt es überhaupt nicht bis zur Erde durch. Vielleicht schreibe ich das lediglich für die Außerirdischen, die das Netz errichtet haben. Ich glaube, ich weiß wirklich nicht, wer meine Leserschaft ist, daher kann ich nichts anderes tun, als Ihnen das zu vermitteln, was ich selbst gerne erfahren würde, wenn ich diese laufenden Berichte bei Annäherung an den Hyperraum lesen würde.
    Ihnen ist vielleicht bekannt, was ich hier tue. Die anderen neunzehn, die hier mit mir sind, senden die wissenschaftlichen Beobachtungen zur Erde zurück. Zweifellos werden ihre Meinungen durch die Medienanalytiker gefiltert, aber ich bin kein Wissenschaftler. Ich bin Schriftsteller. Ein Schriftsteller mit etwas Verständnis für die Wissenschaft, um die es hier geht, aber nichtsdestoweniger Schriftsteller – und ich werde direkt mit Ihnen reden.
    Wir zwanzig schweben alle im Netz. Nicht dem World Wide Web – das hat nichts mit dem Internet gemein … nun ja, vielleicht steht es irgendwie mit einem universumweiten Netz in Verbindung, aber nicht auf die Art und Weise, wie Sie vielleicht glauben. Das Netz ist dieses unendlich komplexe Hyperraumfahrzeug, in dem wir uns jetzt befinden. Die Erdkontrolle hat ihm den Namen gegeben, aus keinem tieferen Grund als dem, weil es wie ein riesiges Spinnennetz aussieht. Natürlich kennen wir den Namen nicht, den ihm seine Erfinder gegeben haben. Bislang haben sie es immer noch nicht für nötig befunden, sich zu zeigen. Wir hoffen alle, daß sie am Ziel dieser vorprogrammierten Reise auf uns warten.
    Wie ist es hier im Netz? Stellen Sie sich vor, Sie sind so klein, daß Sie sich innerhalb des Fadens eines Spinnennetzes befinden. Das ist die beste Art und Weise, es sich vorzustellen. Altweibersommerdünne Fäden, miteinander verbunden in einem Fraktal, einem sich wiederholenden Muster innerhalb eines Musters innerhalb eines Musters. Ich schwebe in einem der Fäden und kann mich nach Belieben durch die Tausende von Fäden bewegen, bis sie zu klein dafür werden. Die lichte Weite der Fäden ist die einzige Beschränkung unserer Bewegungsfreiheit hier drinnen. Jawohl, mein physischer Leib ist noch immer intakt. Ich bin kein körperliches Wesen, obwohl es sich zuweilen ein wenig so anfühlt, so wie wir ohne Mühe durch die Fäden navigieren, uns nach Belieben um 180° drehen und von den Wänden abstoßen. Ich atme, obwohl keiner von uns wirklich versteht, wie das funktioniert. Ich esse. Ich schlafe. Ich scheide aus. Wenn ich mich fest genug kneife, spüre ich den Schmerz. Ich könnte mich vielleicht zum Bluten bringen, aber ich sehe keinen Sinn darin.
    Und doch ist ein Spinnennetz in vieler Hinsicht eine armselige Analogie. Keiner von uns fühlt sich irgendwie gefangen. Die Stränge sind an manchen Stellen fünfzig Meter weit. Ich war in jenen, die kaum einen Menschen aufnehmen können, und sie verjüngen sich bis zur mikroskopischen Ebene – bis zur subatomaren, sagt man mir. Selbst in den engsten Strängen fühle ich mich nicht eingeengt. Die Wände sind durchsichtig wie das klarste Glas.
    Und draußen, überall um uns, sind die Sterne.

 
    Blauverschiebung
     
    »Entscheidungen. Es geht um die Entscheidungen, die Sie treffen – und Sie sind Herr dieser Entscheidungen.«
    Aus dem einen oder anderen Grund stellte Christain fest, daß er den Sprecher auf der Bühne nicht mehr ansehen konnte. Es war zu schmerzlich. Warum war er hierhergekommen? Um sich inspirieren zu lassen? Ha! Er hatte seit langen gewußt, daß es so etwas wie Inspiration nicht gab, daß Inspiration eine Selbsttäuschung war.
    Er studierte die Gesichter um ihn herum. Keines ähnelte ihm. Sie konzentrierten sich alle auf die winzige Figur vorn oder den riesigen Bildschirmdoppelgänger, der über ihm aufragte.
    Er nahm die Stimme wahr, nahm sie aber auch irgendwie nicht wahr. »Ist das Glas halbvoll oder halbleer. Was möchten Sie sehen? Was sehen Sie?«
    Christain stieß den Fremden neben sich an. »Ich sehe von hier aus überhaupt kein Wasser.« Er stand auf. »Das ist

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