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Das Jahr der Maus

Das Jahr der Maus

Titel: Das Jahr der Maus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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DOPPELGÄNGEREFFEKT
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    »Das Mysterium ist mir unbegreiflich,
    aber ich nehme mich immer als zwei wahr.«
    WALT WHITMAN
     
    Blauverschiebung
     
    Das Grau tropfte um ihn herum nieder, und Christain wußte, daß für sie die Zeit gekommen war, ihn erneut zu töten. Die Straßenbahngleise vor ihm glitzerten, als er die Mitte der spärlich beleuchteten Straße entlangging. Wie lange war es her, seit Straßenbahnen durch die Stadt gefahren waren? Es hatte früher keine Rolle gespielt, aber aus irgendeinem Grund war es jetzt wichtig, daß er sehen konnte, wie sich die schimmernde Doppellinie durch die nächtliche Landschaft der Stadt erstreckte. Parallel, immer parallel, dachte er. Wenn sie nicht parallel waren, funktionierte es einfach nicht.
    Er wirbelte sacht seinen Regenschirm, und plötzlich fielen um ihn herum dicke Tropfen in Kaskaden nieder. Halbherzig versuchte er zu pfeifen – überlegte sich einen Augenblick lang sogar einen albernen Tanzschritt – in der vergeblichen Hoffnung, daß eine Frivolität dem Unausweichlichen zuvorkommen würde. Letztlich fehlte es ihm aber am Willen dazu. Er ging lediglich weiter und wartete; das Blut rauschte ihm in den Ohren.
    Und dann kam es. Nicht wie er es vorhergesehen hatte – irgendwie war es immer unmöglich, vorauszusehen, wie es geschehen würde. Er hörte in der Ferne das Geräusch eines Wagens. Würde er also diesmal überfahren werden? Würde man es so machen? Die Tonhöhe steigerte sich, als der Wagen näher kam … Er machte sich bereit. Bitte nicht, nicht schon wieder. Nicht schon wieder. Er schloß die Augen.
    Er hörte ein Übelkeit erregendes Kreischen von Bremsen und blickte auf. Durch den dünnen grauen Regenschleier konnte er erkennen, daß das Auto angehalten hatte, es hockte zehn Meter vor ihm auf den Straßenbahngleisen. Die Türen gingen auf, zwei dunkle Gestalten stiegen aus und kamen auf ihn zu, in der rechten Hand eines jeden blitzte Stahl.
    Keine Messer. Die waren immer am schlimmsten.
    Er lief los. Rein instinktiv. Der Regen fiel schräg auf ihn, sein Gesicht war ganz naß. Er hörte, wie das patschende Geräusch der laufenden Füße hinter ihm lauter wurde. Sein Fuß glitt auf einem der Straßenbahngleise aus, und er stürzte.
    Um Atem ringend bemerkte er etwas verschwommen Dunkles und einen dumpfen Blitz, ehe seine Lungen durchbohrt wurden. Die letzten Worte, die er vernahm, waren: »Das ist Gerechtigkeit …«
     
    »Jess?«
    »Weißt du, wie spät … es ist wieder passiert, nicht wahr, Chris?«
    »Ja, Jess. Sie sagten mir, der Nachhall sollte jetzt verklingen, aber ich habe ihn noch immer Nacht für Nacht.«
    »Es muß schlimm für dich gewesen sein, wenn du mich anrufst.«
    »War es auch.«
    »Wie deutlich war es diesmal?«
    »Es war so wirklich wie dieses Gespräch jetzt.«
    Am anderen Ende des Telefons rührte sich nichts.
    »Jess?« fragte Christain.
    »Tut mir leid …«
    »Steve möchte, daß du auflegst, nicht wahr?«
    Schweigen.
    Christain spürte eine Welle von Zorn. »Jess, sag diesem Bastard, er …«
    »Warum sagst du es mir nicht selbst?« fragte Steves Stimme.
    »Hör zu, Steve, ich möchte bloß mit meiner Schwester reden. Das ist nicht zuviel verlangt, oder?«
    »Und was ist mit dem Zeitunterschied zu hier in Perth?«
    »Hier ist auch nicht gerade die Cocktailstunde.«
    »Daß du nicht schläfst, bedeutet noch lange nicht …«
    »Ja, okay, ich weiß: Warum sollen die Unschuldigen leiden. Es ist aber nicht so einfach.« Christain fühlte sich plötzlich unglaublich abgespannt. »Tut mir leid, Steve. Sag Jess, es tut mir leid, daß ich sie mitten in der Nacht gestört habe. Geht beide wieder schlafen.«
    Er legte auf.

 
    Rotverschiebung
     
    Wo beginnen? Was hätte Kolumbus gesagt? Marco Polo? Cook? Armstrong? Natürlich ist es nicht dasselbe, nicht wahr? Diese große Fahrt. Es ist unendlich mehr und unendlich weniger. Und keiner der großen Entdecker würde sich als Schriftsteller betrachten. Ich jedoch tue es.
    Welche Worte erwarten Sie von mir? Meine Neigung geht gewöhnlich dahin, das Umgekehrte von dem zu tun, was die Leser von mir erwarten. Um zu überraschen, zu schockieren, Sie raten zu lassen. Ist das möglich bei einer Milliarde von Ihnen? Ist es angemessen? Das ist schließlich keine erzählende Prosa, und ich bin kein Journalist.
    Ich habe es aufgegeben, mit diesen Worten etwas erreichen zu wollen. Ich werde mich in Schwierigkeiten bringen, wenn ich noch länger daran denke. Ich werde nichts anderes tun,

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