Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Jahr der Maus

Das Jahr der Maus

Titel: Das Jahr der Maus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
Vom Netzwerk:
nicht so leicht, diesen Ort als Märchenland zu betrachten, aber Mary Maude ist auch eine ziemlich eigenwillige Type. Es spricht jedenfalls für sie, daß sie das Positive betont.
    Abgesehen von den mineralischen Verkrustungen im Schlamm weist die Zone auch dort Farben auf, wo der Boden durch die Hitze eines starken Ausbruchs von unten gebacken worden ist. Sie rangieren von Orange und Ziegelrot über leuchtendes Kirschrot bis zu Purpur und Schwarz, mit ein paar lebhaften blauen Streifen. Aber diese Farbenpracht ist auch das einzige in der ganzen Gegend, was man irgendwie als schön bezeichnen könnte. Jedes Gebäude ist von Schlamm und Asche befleckt. Es sind so gut wie keine lebenden Bäume oder Gartenpflanzen zu sehen, nur geschwärzte Stämme mit Zweigen, an denen noch verschrumpelte Blätter hängen.
    In diesen Vierteln wohnen nicht mehr viele Menschen. Die meisten von denen, die es sich leisten konnten, haben ihre weltliche Habe zusammengepackt und zu neuen Häusern außerhalb der Zone und vielfach gleich ganz außerhalb des Staates schaffen lassen. Viele von jenen am unteren Ende der Einkommensskala sind ebenfalls weggezogen, und zwar in die neuen staatlichen Umsiedlungslager, die in Downtown L.A., Valencia, Mojave, dem Angeles National Forest und überall dort errichtet worden sind, wo es keine wütende Hausbesitzervereinigung gab, die eine einstweilige Verfügung dagegen erwirken konnte. Die verbliebenen Bewohner der Zone sind hauptsächlich Leute mit niedrigem bis mittlerem Einkommen, jene, die ihre Häuser noch nicht verloren haben, aber auch keine Umzugsfirmen bezahlen könnten, und die nicht arm genug für die Lager sind. Sie hocken immer noch hier, bewachen ihre bescheidenen Häuser grimmig gegen Plünderer und geben trotz allem die Hoffnung nicht auf, daß die nächste Runde von Lava-Ausbrüchen in irgendeiner anderen Straße stattfinden wird und nicht ausgerechnet in ihrer.
    Wie verzweifelt manche dieser Menschen mittlerweile sind, entdeckt Mattison, als die erratische Route des Transporters um die diversen Hindernisse herum durch den übel zugerichteten Teil eines Barrios irgendwo zwischen Azusa und Corvina führt und sie eine Art heidnisches religiöses Opferritual mitten auf einer vierspurigen Kreuzung sehen, wo der Asphalt sich leicht aufwölbt und erste Anzeichen einer bevorstehenden Buckelbildung zeigt, während der Gasdruck sich darunter aufbaut. Auf dem Fußgängerüberweg hat jemand flache Brocken blauschwarzer Lava zu einem groben Altar mit zerklüfteten Rändern aufgehäuft und ihn mit grünen Zweigen umkränzt, die von Bäumen in der Nähe abgerissen worden sind.
    Ein Mann, offenkundig ein Priester – aber kein irgendwie gearteter katholischer Priester; sein dunkles Gesicht ist mit grünen und roten Streifen bemalt, und er trägt ein großartiges, aztekisch aussehendes Kostüm mit bunten Federn und Fellstreifen darauf – steht auf dem Altar, ein glänzendes Schlachtermesser in der Hand. Der Altar ist blutbesudelt, und es wird gleich noch mehr Blut fließen, denn zwei weitere Männer in weniger bunten Gewändern stehen neben dem Priester und halten ihm ein wild flatterndes Huhn hin. Hinter dem Altar reihen sich allerlei Schweine, Schafe und Vögel und warten darauf, daß sie an die Reihe kommen. Vielleicht fünfzig schäbig gekleidete Männer, Frauen und Kinder mit steinernen Gesichtern bilden einen größeren Kreis um den Altar, halten sich an den Händen und stampfen langsam und rhythmisch mit den Füßen.
    Was hier vorgeht, ist jedem an Bord des Citizens-Service-House-Transporters sofort völlig klar. Trotzdem ist es nicht immer leicht, seinen Augen zu trauen, wenn man so etwas sieht. Mattison starrt schockiert und ungläubig auf das Geschehen und fragt sich, ob sie durch einen Riß in der Zeit gerutscht und in eine uralte, primitive und barbarische Epoche geraten sind. Aber nein, nein, überall sind prosaische Beweise für das moderne Jahrhundert zu sehen, Laternenpfähle, Ladenfassaden, Reklametafeln. Nur das, was mitten auf der Straße geschieht, ist so überaus fremdartig.
    »Heilige Scheiße«, sagt Buck Randegger. Der ehemalige Straßenbauarbeiter ist seit ungefähr vier Monaten clean, und sein Nervenkostüm ist noch ziemlich dünn. »Ich hab gedacht, die Scheiß-Mexikaner in dieser Stadt wären Christen, Herrgott noch mal.«
    »Sind wir auch«, erklärt ihm Annette Perez eisig. »Und auch noch was anderes, wenn’s sein muß. Manchmal beides zugleich.« Das Schlachtermesser saust

Weitere Kostenlose Bücher