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Das Jahr der Maus

Das Jahr der Maus

Titel: Das Jahr der Maus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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aus der Polisbibliothek herunter. »Haben Sie überhaupt eine Ahnung, was archetypische Erzählungen sind?«
    »Botschaften der Götter oder aus den Tiefen der Seele – wer kann das schon sagen? Doch sie enthalten Verschlüsselungen des tiefsten und bedeutendsten …«
    Sachio fuhr ihm ungeduldig in die Parade. »Sie sind das Produkt einiger Zufallsausprägungen fleischlicher Neurophysiologie. Wann auch immer eine komplexere oder diffizilere Geschichte durch die orale Tradition verbreitet wurde, degenerierte sie unvermeidlich früher oder später zu einer archetypischen Erzählung. Erst als man lernte, Geschichten niederzuschreiben, wurden sie von Fleischlichen, die ihr eigentliches Wesen nicht verstanden, bewußt geschaffen. Hätte man alle großen Statuen der Antike auf einen Gletscher geworfen, wären sie mittlerweile zu einem voraussagbaren Spektrum runder Kieselsteine zermalen worden. Weshalb aber runde Kieselsteine noch lange nicht der höchsten Kunst zuzuordnen sind. Was Sie hier geschaffen haben, entbehrt nicht nur jeder Wahrheit, es ist auch bar jeden ästhetischen Verdienstes.«
    Prospero war sprachlos. Er blickte in die Runde, als hoffe er, jemand ergreife das Wort, um die Ballade zu verteidigen.
    Niemand gab einen Ton von sich.
    Das war es: das Ende der Diplomatie. Gisela versuchte Cordelia hinter vorgehaltener Hand zuzuflüstern. »Bleiben Sie in Cartan! Niemand kann Sie zwingen abzureisen!« riet sie ihr.
    Mit einem Ausdruck unverhohlener Überraschung wandte Cordelia sich ihr zu: »Aber ich dachte …« Sie verstummte, versuchte, etwas noch einmal zu überdenken, ihr Erstaunen zu verbergen.
    Schließlich sagte sie: »Ich kann nicht bleiben.«
    »Warum nicht? Was sollte Sie daran hindern? Sie können doch nicht für alle Zeit wie lebendig begraben in Athena leben …« Gisela hielt plötzlich inne; welch bizarre Macht dieser Ort auch immer über sie haben mochte, es würde sicher nicht helfen, ihn schlecht zu reden.
    Fassungslos murmelte Prospero: »Undankbarkeit! Tiefste Undankbarkeit!« Cordelias Augen hingen in verzweifelter Hilflosigkeit an ihm. »Er ist noch nicht soweit.« Sie wandte sich Gisela zu und erklärte ohne Umschweife: »Athena wird es nicht immer geben. Solche Poleis entstehen und vergehen, es gibt jedes Jahrhundert zu viele Möglichkeiten, sich an eine eigenwillige, hoch und heilig verehrte Kultur zu klammern. Aber er ist noch nicht bereit für einen Wechsel. Er erkennt nicht einmal, daß die Zeit dafür reif ist. Ich kann ihn damit nicht allein lassen. Er braucht jemand, der ihm dabei hilft.« Unvermittelt lächelte sie spitzbübisch. »Aber ich habe zwei Jahrhunderte von der Wartezeit abgeknapst. Und wenn diese Reise zu sonst nichts nütze wäre.«
    Für einen Augenblick verschlug es Gisela die Sprache. Es beschämte sie, wie stark die Liebe dieses Mädchens war. Doch sogleich schickte sie Cordelia einen Strom von Etiketten. »Das hier sind die Adressen der besten Bibliotheken auf der Erde. Dort erhältst du die wirklich guten Dinge und nicht diese verwässerten Versionen über die Physik der Fleischlichen.«
    Prospero ließ das Podium schrumpfen. »Cordelia! Komm jetzt zu mir. Sollen diese Barbaren doch wieder in der Obskuration versinken, die sie verdienen!«
    So sehr Gisela auch Cordelias Loyalität bewunderte, stimmte ihre Entscheidung sie traurig. Tonlos erklärte sie: »Du gehörst nach Cartan. Es hätte möglich sein müssen. Wir hätten einen Weg finden müssen.«
    Cordelia schüttelte den Kopf: keine Vorwürfe, kein Bedauern. »Machen Sie sich wegen mir keine Sorgen. Ich habe Athena bis jetzt überlebt, ich denke, ich halte bis zu seinem Ende durch. Alles, was Sie mir gezeigt haben, was ich hier getan habe, wird mir dabei helfen.« Sie drückte Giselas Hand. »Danke.«
    Darauf schloß sie sich ihrem Vater an. Prospero erstellte ein Tor, durch das man eine gelb gepflasterte Straße zu den Sternen betrat. Er schritt durch das Tor und Cordelia folgte ihm nach.
    Vikram löste den Blick von dem Gravitationsdiagramm und erkundigte sich milde: »Also gut, jetzt könnt ihr es zugeben: von wem stammt das zusätzliche Exabyte?«
     
    »Freieieiei-heit!« Cordelia sprang durch Cartan Nulls Steuerscape, eine lange Rampe, die in einem Tunnel farbcodierter Feynman-Diagramme schwebte, welche in der Dunkelheit funkelten wie die Schweife von Milliarden kollidierender und zerstiebender Funken.
    Giselas erster Impuls war, sie in die Enge zu treiben und ihr ins Gesicht zu brüllen: »Bring

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