Das Jahr der Maus
subjektive Zeit die Springer auch entlang dieses Weges erlebt haben mochten, wieviel Berechnungen auch angestellt worden sein mochten, das gesamte Umfeld von Cartan Null wäre ein paar Mikrosekunden später zermalmt worden, hätte die Singularität erreicht.
»Falls die Springer aus dem Loch wieder austreten würden, gäbe es doch ein Paradoxon?« Gisela wandte sich um. Sie hatte gar nicht bemerkt, daß Cordelia hinter sie getreten war. »Wenn sie wieder herauskämen, wären sie gar nicht hineingefallen – sie könnten also herabstoßen und die Nanomaschinen einsacken und damit ihre eigene Geburt verhindern.« Die Vorstellung schien ihr nicht zu behagen.
Gisela entgegnete: »Nur wenn sie nahe am Ereignishorizont herauskämen. Tauchten sie weiter entfernt davon auf – zum Beispiel jetzt hier in Cartan –, kämen sie bereits zu spät. Die Nanomaschinen hätten einen zu großen Vorsprung. Nur weil sie in unserem Referenzrahmen still zu stehen scheinen, sind sie noch kein einfach zu jagendes Ziel. Nicht einmal mit Lichtgeschwindigkeit könnte man sie von hier aus noch einholen.«
Daraus schien Cordelia neue Hoffnung zu schöpfen. »Dann wäre es also nicht unmöglich zu entkommen?«
Gisela wollte gerade ein paar Gegenargumente nennen, als ihr plötzlich der Gedanke kam, ob mit dieser Frage nicht etwas ganz anderes gemeint war. »Nein, es ist nicht unmöglich.«
Cordelia lächelte ihr verschwörerisch zu. »Gut.«
Prosperos Stimme ertönte: »Versammelt euch! Versammelt euch hier und lauscht der Ballade von Cartan Null!« Er erstellte ein Podium unter seinen Füßen. Timon schlich sich zu Gisela und flüsterte ihr zu: »Wenn er auch noch eine Laute auftauchen läßt, schicke ich meine Sinne woanders hin.«
Es kam nicht soweit, die Blankverse wurden ohne musikalische Begleitung vorgetragen. Der Inhalt jedoch übertraf Giselas schlimmste Vorstellungen. Prospero hatte sich von allem, was sie und die anderen ihm erzählt hatten, nicht beeinflussen lassen. Die Gründe, aus denen sich ›Charons Fahrgäste‹ in seiner Version in den ›Schlund der Schwerkraft‹ begaben, hatte er sich vollkommen aus den Fingern gesaugt: um einer unglücklichen Liebe/drohender Vergeltung wegen eines unaussprechlichen Verbrechens/der Langeweile des schier ewigen Lebens zu entkommen; um einen fleischlichen Urahnen wiederzuerwecken; um in Kontakt mit ›den Göttern‹ zu treten. Die grundlegenden Fragen, die die Springer tatsächlich zu lösen hofften – die Struktur der Raumzeit auf der Planck-Skala, den Unterbau der Quantenmechanik – fand er keiner Erwähnung wert.
Gisela beobachtete Timon aus den Augenwinkeln, doch er schien außerordentlich gut mit der Neuigkeit zurechtzukommen, daß seine eigene Version soeben in Chandrasekhar hinein geflohen war, um der Strafe für eine abscheuliche Greueltat zu entgehen. Sein Gesicht spiegelte ungläubiges Staunen wider, aber ein Zeichen der Wut war nicht zu entdecken. Leise murmelnd meinte er: »Dieser Mann lebt in der Hölle. Er wird niemals etwas anderes sehen als den Schleim auf der Helmscheibe seines Schutzanzugs.«
Das Publikum lauschte schweigend, als Prospero mit der ›Beschreibung‹ des Sprungs selbst begann. Timon starrte mit einem gedankenverlorenen Lächeln auf den Boden. Tiet blickte mit einem abwesenden, gelangweilten Ausdruck in die Runde. Vikram linste ständig auf ein Display hinter sich, um zu sehen, ob die durch die einströmenden Nanomaschinen ausgelöste schwache Gravitationsstrahlung noch seiner Vorhersage entsprach.
Nur Sachio wurde es schließlich zuviel, er geriet außer sich und warf wütend ein: »Cartan Null ist also eine Art Geisterscape, voller Geisterikonen, das durch das Vakuum hinein in das Loch treibt?«
Diese Unterbrechung überraschte Prospero eher, als daß sie ihn empörte. »Es ist eine Lichterstadt. Durchscheinend, ätherisch …«
Die Eule in Sachios Schädel plusterte die Federn auf. »Photonen könnten niemals einen solchen Zustand annehmen. Was Sie beschreiben, existiert nicht, und selbst wenn es existieren würde, entbehrte es jeden Bewußtseins.« Sachio hatte jahrzehntelang an dem Problem gearbeitet, Cartan Null die Datenverarbeitung zu ermöglichen, ohne die Geometrie seines Umfelds zu stören.
Versöhnlich breitete Prospero die Arme aus. »Man muß eine archetypische Erzählung einfach halten. Sie mit technischen Details zu überfrachten …«
Sachio senkte kurz den Kopf, legte die Fingerspitzen an die Stirn und lud sich Informationen
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