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Das Jahr der Maus

Das Jahr der Maus

Titel: Das Jahr der Maus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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mir großzügig gewährte Möglichkeit, nach den Ausführungen meines verehrten und sehr engagierten Herrn Pflichtverteidigers auch noch persönlich das Wort ergreifen zu dürfen. Ein Schlußwort in eigener Sache.
    Sie werden sich anschließend zur Beratung zurückziehen, um über mich und die Ergebnisse meiner Forschung entweder den Stab zu brechen, wie dies in den dunklen Zeiten des Mittelalters üblich war, weil nicht erforscht werden darf, was nicht erkannt werden soll, oder meine Arbeit als das anzuerkennen, was sie ist und bedeutet: eine neue kopernikanische Wende in der Geschichte der Humanwissenschaft.
    Wer die Resultate meiner Arbeit anerkennt, für den steht der Mensch, der homo sapiens sapiens, nicht mehr auf dem hohen, selbstgezimmerten und höchst brüchigen Sockel, den er so vehement und so emotional verteidigt.
    Wir, die zur Zeit dominanten Bewohner des Planeten Erde, sind Übergangswesen, nichts weiter.
    Wir sind die Neandertaler von morgen.
    Das Etikett von der Krone der Schöpfung, das wir uns so selbstgefällig umhängen, wurde von mir als naive, eitle Illusion bloßgestellt.
    Ein schmerzlicher Selbstfindungsprozeß für uns alle könnte damit beginnen.
    In aller Bescheidenheit darf ich sagen: Meine Experimente haben bewiesen, daß wir als Wesen austauschbar und nach Belieben neu konstruierbar sind.
    Das sollte uns zu der banalen Einsicht verhelfen, daß wir als Zufallsprodukt der Evolution – kosmisch gesehen – leider höchst unwichtig und vermutlich sogar überflüssig sind.
    Die jahrzehntelange Suche nach einem ›Missing-Link‹ in der Entwicklung des homo sapiens sapiens, den scheinbar so spontanen, plötzlichen und als ›gewaltig‹ klassifizierten Sprung von seinen Vorläufern, primitiven Hominiden, zu seiner offenbar so gelungenen, endgültigen, heutigen Form als abstrakt-denkendes, intelligentes, vernunftbegabtes Wesen, habe ich als nutzlos und abwegig entlarvt. Denn: Dieser Sprung, sofern er überhaupt einer war, und nicht nur eine Lücke in unserer Information über eine stetige Weiterentwicklung der Spezies, so war er zufällig und aus genetischer Sicht trivial.
    So, wie ich hier vor Ihnen stehe, bin ich der Vertreter einer Mutation unter vermutlich Millionen Mutationen, die über Äonen von Jahren auf diesem Planeten entstanden sind, einer Hominiden-Art also, die sich in ihrer Reproduktionstaktik als äußerst fruchtbar und in ihrer Ausbreitung als extrem aggressiv und daher erschreckend erfolgreich erwiesen hat.
    Der Rest ist die überlebensbedingte, eigendynamische Entwicklungsstrategie einer Spezies aufrecht jagender, und in jeder Hinsicht skrupelloser Raubaffen, bestens angepaßt an sich ständig verändernde Umweltbedingungen.
    Zumindest bis heute.
    Die Evolution würfelt blindlings, wahllos und unvorhersehbar nach Gesetzen von Zufall und Notwendigkeit.
    Andererseits: Wer nicht mitspielt, wer nicht Eigenschaften entwickelt, die eine Überlebens-Chance optimieren, hat als Spezies versagt und verschwindet von der Bühne des Lebens.
    Wir sind nicht verschwunden!
    Im Gegenteil: Wir haben uns ungehemmt vermehrt und tun es weiter.
    Trotzdem: Stolz zu sein, auf das, was wir sind, steht uns nicht zu, denn das bisherige Ergebnis entstand ja jenseits jeglicher subjektiven Absicht und unabhängig von Einfluß und selbstbezogener Mitwirkung, und es ist mitnichten als fehlerfrei und gelungen zu bezeichnen.
    Soweit meine höchst persönliche Botschaft!
    Ich frage Sie nun: Ist die Verkündung einer neuen, uns angemessenen Bescheidenheit strafbar?
    Ist der Narr, der sich und andere Narren der Narretei bezichtigt, ein Verbrecher?
    Oder ist er nur lästig und muß mundtot gemacht werden, was der Herr Sonderermittler und Chefankläger hier gerade im Sinne eines neuen, mehrheitlichkonservativen und religiös-fundamentalistisch orientierten Trends versucht?
    Ich habe die Spezies Mensch als Zufallsprodukt der Evolution dorthin gestellt, wohin sie gehört.
    Ich habe zurecht gerückt, nicht kompromittiert!
    Was, bitte, ist daran kriminell?
    Mein Bemühen, die Rudimente einer anthropozentrischen Sicht aus längst vergangenen Tagen, die uns in den Mittelpunkt des Kosmos stellt und die unser Bewußtsein mit absurd-freundlichem Wunschdenken immer noch einengt, endgültig auszumerzen, das kann doch nicht Sinn eines hochnotpeinlichen Strafverfahrens sein – bestenfalls Grundlage eines philosophischen Disputs.
    Damit zur Sache:
    Mein Herr Pflichtverteidiger ging auf die wissenschaftliche Tragweite meiner

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