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Das Jahr der Maus

Das Jahr der Maus

Titel: Das Jahr der Maus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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Bateke haben sie sich dort zu Tausenden vermehrt und ihre von mir erworbene Vernunft an ihre Nachkommen weitergegeben.
    Ich bin Anhänger eines praktischen Vernunftbegriffs, einer Vernunft also, die sich auf das Wollen und Handeln bezieht und sich, wie Kant uns in seiner Vernunftkritik lehrt, auf eine regulative Tätigkeit beschränkt. Andererseits müssen wir – nach Hegel – von einer dialektischen Verknüpfung von Vernunft und Verstand ausgehen.
    Zugegeben: Vom Idealbild intelligenter Wesen im Sinne einer vollendeten sittlich-moralischen Reife sind meine Schimpansen-Mutationen noch etwas entfernt.
    Die Veränderungen beziehen im Augenblick das Stammhirn noch nicht mit ein, in dem bei uns Menschen die Anlagen für gruppendynamische Ausgrenzung gespeichert sind, für Herdentrieb, Aggression, Ideologien, Religiosität, Spiritismus, Aberglauben, intellektuelle Unterwerfung und Aufgehen in Vereinen und Banden, aber auch Mystizismus, Patriotismus, Nationalismus und andere primitive ›Ismen‹. Denn das alles war einst überlebenswichtig für Primitivgesellschaften.
    Für uns Menschen der Gegenwart ist dieses archaische Verhaltensmuster – ich erwähne nur fundamentalistisch infizierte Religiosität, aber auch ethnisch geprägten Nationalismus, der zu Mord und Totschlag, der zu Krieg und Vertreibung führt – höchst gefährlich, weil vom Verstand her nicht kontrollierbar.
    Denn wie gehirnphysiologisch nachgewiesen, sind die Synapsen zwischen dem dumpfen Stammhirnkomplex und den grauen Zellen der Großhirnrinde, des Cortex mit seiner kritischen Intelligenz, in den meisten Fällen nur ungenügend ausgebildet.
    Das artspezifisch-menschliche Instinktverhalten hat seine Entsprechung im Stammhirn meiner Mutanten, mit der Großhirnrinde ist es jedoch wesentlich besser vernetzt. Das läßt hoffen!
    Wie aus der Menschheitsentwicklung bekannt, entstehen haptische Fähigkeiten aus dem Wunsch, Muskelkraft zu verstärken, einzusparen oder zu ersetzen – nicht nur bei der Jagd, auch bei Angriff und Verteidigung.
    Aus leeren Coca-Cola- und Bierbüchsen, aufgesammelt in den Slums und auf den Müllhalden von Diambálo, unserer Provinzhauptstadt, fertigen meine Mutanten sich scharfe Messer, um damit den Mitgliedern einer verfeindeten Gang, manchmal auch Außenstehenden, aus purer Lust die Kehlen zu durchschneiden.
    Schon in der zweiten Generation ist das phantasievoll entwickelte Waffenarsenal meiner männlichen Geschöpfe – vor allem als Potenzsymbol – unvorstellbar breit gefächert. Der Kreativität, einmal in Gang gesetzt, scheinen auf diesem Gebiet keine Grenzen gesetzt zu sein.
    Das Rad mußte nicht neu erfunden werden – es wurde aus unserer Zivilisation einfach übernommen.
    Wenn die jungen Mutanten der übernächsten Generation, nach einer kurzen Entwicklungsphase, endlose Staubfahnen hinter sich herziehend, in ihren gestohlenen und von ihnen selbst trickreich wieder in Gang gesetzten und hochfrisierten Schrottwagen über die unbefestigten Pisten des Plateaux Bateke rasen und sich, von beifallkreischenden Weibchen angefeuert, formel-1-ähnliche Duelle liefern, dann bin auch ich sehr stolz und sehr glücklich.
    Ein zivilisatorischer, technologischer Anfang ist gemacht, wenn auch, wie immer, unter einem etwas umstrittenen Aspekt.
    Die Entdeckung des Feuers und der triebhafte Umgang damit führte anfangs zu einer geradezu erschreckenden, pyromanischen Sucht, der immer wieder ganze Wälder, Maiskulturen und Dörfer zum Opfer fielen. Aber inzwischen versammeln sich die Familien gesittet um das abendliche Feuer.
    Denn der Genuß von gegrilltem Fleisch hat den ursprünglich rein vegetarischen Nahrungskonsum weitgehend abgelöst. Akte von Kannibalismus konnten dabei – zumindest bisher – nicht völlig vermieden werden.
    Das veränderte Sexualverhalten ist wohl die augenscheinlichste Veränderung im Ethogramm, im Verhaltensinventar meiner Mutanten. Wiederum ein bemerkenswerter Akt der Kultivierung im täglichen Zusammenleben.
    Während sich die männlichen Mitglieder anfangs noch wie ihre primitiven Verwandten von rückwärts dem anmutig-einladenden Hintern der Weibchen näherten, die Kohabitation a tergo, also eine Begattung von der Kehrseite her und nur zu Brunftzeiten vornahmen, ohne der Partnerin dabei je in die Augen zu sehen, wechseln meine umkodierten Schimpansen schon in der ersten Generation ihr Verhalten.
    Auf Anweisung der Regierung hält ein gewisser Pater Levebre von der nahegelegenen Missionsstation in

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