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Das Jahr der Maus

Das Jahr der Maus

Titel: Das Jahr der Maus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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war das gräßliche kleine Gedicht, in dem die Liebe mit einer Hyazinthe verglichen wird. Billie hatte sich nie zu der Ansicht verstiegen, daß Eamon nur gute Sachen schrieb. Darauf kam es auch gar nicht an. Wichtig war nur, daß er manchmal, wie zufällig eingestreut, Dinge von sich gab, die man sonst nirgendwo fand.
    Als Danielle sich anschickte, ›Wandlungen‹ aufzusagen (Handlungen, Melodie verklungen, Lied gesungen), und die Frauen im Schneidersitz hockend, mit geschlossenen Augen, beifällig nickten, begriff Billie, daß sie für diesen Schund schwärmten. Um solchen Tinnef zu hören, waren sie hierhergekommen. Das Erschreckendste an der Vorstellung war, daß vielleicht die meisten Eamon Strafe-Fans ihren schlechten Geschmack teilten.
    Billie fühlte sich verraten. Diese sogenannten Fans hatten absolut keine Ahnung. Manchmal sang Eamon von den Qualen und dem Terror dieser Welt, doch sie sahen nur das Seichte, Unbedeutende an ihm.
    Danielle beendete ihre Lesung und die Frauen applaudierten. Weil sie Französin ist, dachte Billie. Sie mögen ihren Akzent.
    Dann spielten sie ein paar Video-Clips ab.
    Mit unfehlbarem Instinkt begannen sie mit Eamons dürftigstem Song ›Ich will bei dir sein‹. Es gab vielleicht nur vier Veröffentlichungen von Eamon, die Billie auf den Tod nicht ausstehen konnte, und dieses Lied nervte sie am meisten. Es handelte von einem jungen Mann, dessen Freundin gestorben ist, und der versucht, sich im Tod mit ihr zu vereinen oder so.
    »Diese Stimme!« berauschte sich die Mollige in der schwarzen Lederjacke und kroch noch tiefer in sich hinein. Eine andere zückte ein mit Lippenstift verschmiertes Kleenex-Tuch und fing hemmungslos an zu heulen. Weinen wurde gebilligt. Alle fingen an zu flennen, haltsuchend aneinandergeschmiegt. In respektvollem Schweigen huschte Tora auf Zehenspitzen durchs Zimmer und zündete Kerzen an. Es war wie bei einer Beerdigung.
    Dann kam ›Eine Stimme im Nebel‹, und Billie spürte, wie ihre Gesichtszüge erstarrten. Der Song war auf derselben Cassette gewesen wie ›Für die Toten im Libanon‹. Und nun interpretierte Eamon ihn in der Mitternachtsshow. Die Aufzeichnung war zwölf Jahre alt, und Eamon hatte noch kein Fett angesetzt. Diesen Song hatte sie nicht mehr gehört, seit ihre eigene Cassette bei ihrem Umzug verlorenging, und diesen Video-Clip hatte sie zum erstenmal bei Tora gesehen.
    Sie fand ihn immer noch ausgezeichnet, und sie erinnerte sich an die Zeit, als ihr die ganze Welt noch anders erschienen war.
    Plötzlich standen die Frauen auf, hielten sich bei den Händen, wie sie, Tora und Janice es damals getan hatten, und sangen den Text mit. Die Stimmen klangen gepreßt und brüchig, wie in einer Kirche, und übertönten Eamon.
     
    Eine Stimme im Nebel,
    wie ein streichelnder Kuß,
    ein Traum im Vergehen …
     
    Das ist nicht irgendein schnulziges Liebeslied, hätte Billie am liebsten gesagt, während sie sich darüber wunderte, wie reichlich ihre eigenen Tränen flossen. Es geht um die Seele, die sich nur in wenigen, bestimmten Augenblicken offenbart. Hochblickend schaute Billie auf die Französin Danielle, die sie mit einem geradezu liebevollen Ausdruck fixierte, als wollte sie sagen: Ich weiß, was du empfindest. Du verstehst überhaupt nichts, dachte Billie.
     
    Nach dem Video-Clip kam Danielle zu Billie. »Wegen Eamon bin ich in dieses Land gezogen«, erklärte sie schmachtend.
    Billie reagierte kühl. »Dann bist du im falschen Land. Er ist nämlich Ire.«
    Danielle focht das nicht an. Lächelnd zuckte sie die Achseln. Was soll’s, schien sie zu denken.
    Irland ist vermutlich nicht gut für ihren Teint, sagte sich Billie. Plötzlich sehnte sie sich danach, in Irland zu sein, dem Irland ihrer Träume.
    Tora trug einen Kuchen ins Zimmer. Billie schwante bereits, was gleich passieren würde. Auf dem Monitor flimmerten blaue und grüne Farbtöne.
    »HAL-LOOO!« plärrten die Frauen.
    Billie wandte den Blick ab. Sie konnte es nicht mitansehen. Die Weiber begannen zu singen.
    »Happy birthday dear Eamon. Happy birthday to you!«
    Eamon trug eine Sonnenbrille; das tat er sonst nie. Eine Sonnenbrille und ein Hawaii-Hemd. Er befand sich am Meer, doch auf dem Strand waren Schirme aus Palmwedeln aufgepflanzt. Man sah weiße Tische mit Gläsern darauf und wasserskifahrende Leute. Auf der heranrollenden Dünung spiegelte sich das Sonnenlicht in unregelmäßigen Mustern. Toras Computer war besser als der von Billie; er konnte Wellen

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