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Das Jahr der Maus

Das Jahr der Maus

Titel: Das Jahr der Maus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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das beunruhigende Lächeln. Der junge Mann kam sich vor, als ginge er auf Schmierseife, dabei saß er doch sicher auf einer Parkbank. Auch er versuchte zu lächeln. Er hielt sich an den winzigen Spiegelbildern seiner selbst in den Brillengläsern des Fremden fest. Der Fremde nickte verbindlich. Er sagte: »Du bist ein Nozizeptor. Ich rufe dich auf.« Dann verabschiedete er sich mit einem leichten Nicken. Erst einen halben Tag später stand der Entschluß des jungen Mannes fest. Er würde sich beschweren. Er würde zu diesen Leuten hingehen und sich diesen Unsinn verbitten. Ein für allemal. Als er diesen Entschluß in die Tat umsetzte, hatte er weiche Knie. Schon am Eingang der ›Behörde‹ zweifelte er daran, daß er auf den Tisch schlagen würde, wie er sich das vorgenommen hatte. Auf der Etage angekommen, wo sein Peiniger arbeitete, dachte er sich, es könne vielleicht überhaupt besser sein, ganz umzudrehen. An der Tür zu dem besagten Büro waren seine Hosen bis zum Bund vollgeschissen. Diesmal war das Büro nicht leer. Der Anzug lächelte den Wiedergänger aus dem Park sanft an, und sagte dann ohne Umschweife: »Wir wußten, daß du kommen würdest.«
    »Ich möchte mich beschweren«, sagte der junge Mann unter Aufbietung all seiner Kräfte.
    »Das ist verständlich. Wir möchten aber deine Beschwerden nicht hören, wir möchten etwas anderes. Wir möchten dich zuerst engagieren und dann ausbilden. Hast du verstanden, was das heißt? Du arbeitest für uns. Das wird eine seltene Arbeit sein. Du wirst an ihr sterben. Und trotzdem wirst du nichts anderes tun wollen, als nur das, weil es deine Aufgabe ist. Wie wir auf dich verfallen sind? Du hast uns gerufen. Weil du schon immer das tun wolltest, was wir dir zu tun ermöglichen. Ist es nicht so? Arbeitest du für uns?«
    Der junge Mann war entsetzt darüber, wie logisch das alles für ihn klang. Nichts davon lag ihm. Ziele, meine Güte. Das Bild einer weitverzweigten Gruppe fanatischer Christfundamentalisten erstand vor seinen Augen, die Trottel wie ihn als billige Werkzeuge benutzte, zu welchem Zweck auch immer. Und dennoch, er konnte es ja nicht leugnen: Was der Anzug sagte, machte Sinn. Und so hörte er sich selbst sagen:
    »Ich … kann ich darüber nachdenken?«
    »Nein. Du hast darüber nachgedacht. Deine Entscheidung ist schon gefallen. Wie lautet sie?«
    Und zu seinem größten Entsetzen sah der junge Mann seiner rechten Hand zu, wie sie sich langsam, aber mit voller Bestimmtheit auf die Platte des Schreibtischs vor ihm niedersenkte, als wolle sie dort erst landen, dann anwachsen. Der Anzug berührte seinen Handrücken nur ganz leicht mit seinem ausgestreckten Zeigefinger, und dann nickte er mit einem Ernst, der die ganze Wahrheit auf den jungen Mann herniederbrechen ließ. Es war alles geregelt. Der Fremde aus dem Park nahm den jungen Mann in den Keller des Gebäudes mit. Dort mußte er sich in einer Art Behandlungszimmer auf einer Liege ausstrecken. Eine Viertelstunde später wachte er mit einem leichten Schnupfen auf. Seine Uhr zeigte aber an, daß es bereits tief in der Nacht war. Der Fremde saß auf einem Stuhl in einer anderen Ecke des Raums. Er klatschte in die Hand, und der Kunststoffüberzug einer der Wände der Zimmer begann sich zu kräuseln wie ein Teich, über den ein leichter Wind geht. Dann war die ganze Wand ein einziger Spiegel. Der Fremde aus dem Park klatschte noch einmal, und eines der schwebenden Dokumente erschien mannshoch über dem Fußboden. Diesmal war es für den jungen Mann deutlich erkennbar, es stellte eine Fotografie dar.
    »Deine Ausbildung ist abgeschlossen. Geh jetzt.«
    Der Fremde verließ den Raum. Der junge Mann begann mit der Anpassung. Draußen war tiefe Nacht.
     
    Wenn ich mich doch nur darauf berufen könnte, wenn es doch nur so gewesen wäre. Von Anfang nur Stimmen. Gelenkt werde ich, die Helfer existieren, sie führen die Aufsicht über uns, aber keiner, wenn ich schon längst aufschrie, würde hören, was sie brüllen. Sie brüllen nicht, sie wispern. Sie sagen uns über die Ziele Bescheid.
    Wenn andere die Politik des Schmerzes betreiben, dann betreiben wir die Poesie des Schmerzes, die Rückverwandlung, die Rückverfolgung. Alles was weh tut, blüht in unserer Hand wie ein Gewächs, und unsere Ziele werden mit diesen Blumen beschenkt. Die Ziele stechen sich daran tot, das ist wahr, aber es kommt ja nur zu ihnen zurück, was sie selber weggegeben haben: Schmerz. Wer hätte das gedacht, daß diese alten Lehren

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