Das Jahr der Maus
sagte ich.
Ich war schneller bei D., als sie beide über die Tatsache nachdenken konnte, daß ich wie A. aussah. Ich berührte D.’s Kopf mit der Pistole, und im selben Moment verlor er sein Gedächtnis. Er verlor seine Erinnerung daran, wie man auf einem Stuhl sitzt, und glitt zu Boden. A. war anzumerken, daß er sich noch keine Theorie über mich gebildet hatte; ob ich wohl eine Maske trug, ob ich ein unvermutet aus dem Boden gewachsener Doppelgänger war, ob er halluzinierte, es war alles noch nicht entschieden. Als ich ihn an der Schulter streifte, froren seine Gelenke ein, für immer. Er blieb auf seinem Stuhl sitzen, obwohl er sich wehren wollte, weglaufen, irgend etwas. Er würde sitzenbleiben müssen ein Leben lang. Ich legte ihm die Pistole auf den Schoß. Er wollte nach ihr sehen, aber er konnte nicht. Er wollte nach ihr greifen, aber es ging nicht. Er wollte etwas sagen, aber es kam kein Laut. Ich drehte mich um, und suchte nach dem Ausgang.
Ich lief mit meinen zerrissenen und blutverschmierten Kleidern im frühen Morgen der Stadt, das störte niemand. Ich verwandelte mich bei meinem ziellosen Umherstreifen Schritt für Schritt in etwas, was mir gleichen sollte, aber es unterschied sich am Ende doch mindestens durch drei neue Zähne von dem, was ich einmal gewesen war.
Ich las später in den verwunderten Artikeln: Die Auflösung der betreffenden Polizeieinheit habe wegen zu vieler gebrochener Nasen unmittelbar bevorgestanden. Ihr Kern war jetzt zuverlässig aufgelöst.
Ich mußte eine Frau sein, das war schwer. Nicht die veränderte Sexualität an sich war die Sensation, sondern, was alles von Sexualität durchdrungen war. Daß ich Menschen anders sah, wen hätte es gewundert. Daß Farben auf mich wirkten, als seien sie durch eine schlechte Skibrille gefiltert, daß Brot anders schmeckte, weil meine Hormone anders verteilt waren, daß Werbung mir anders auffiel, weil meine Persönlichkeit sexuell anders getunt war, es machte mich zuerst sprachlos, dann wütend, dann setzte die Gewöhnung ein. Die Verwandlung selbst hatte zwar länger als eine Nacht gedauert, aber sie war nicht das schlimmste. Ich stand eine Nacht lang unter dem Zahlenregen, ich wurde unter dem Zahlenregen umgerechnet. Ich mußte immerzu aufschauen zu den Helfern, aufschauen zur Stuckdecke dieses altmodischen Hotelzimmers, in dem ich mich eingemietet hatte, um mich von einem Thomas Hallstadt in seine eigene Frau zu verwandeln, ich wurde Zelle für Zelle umgerechnet in eine Frau und starrte zur Decke empor, ob ich nun saß, ging, stand oder lag, es war einerlei. Manchmal war der unpersönliche Schmerz, unter dem die Geschlechterbarriere der Länge nach durch mich hindurch verschoben wurde, so groß, daß ich dachte: Oh, ihr Helfer, kann ich das überleben? Und sie sagten mir, ich könne. Ich fragte sie, wer ich denn danach eigentlich sei, und sie fragten zurück, ob das eine Rolle spiele? Die ganze Nacht lang brannte ich vor Liebe. Als ich eine Frau wurde, mußte ich immer zur Decke sehen, und ich war mir meiner geschlechtlichen Identität ein wenig unsicher, während meine Brüste wuchsen, und mein Schwanz schrumpfte und zu einer Klitoris wurde, mein Hodensack, schon leer, sich an der Mittelnaht öffnete und in zwei Labien verwandelte, mein Schamhaar dunkelte nach, meine Muskeln verloren ein wenig Substanz, ich wurde insgesamt fünf Zentimeter kleiner, da ich als Frau nicht durch meine Größe auffallen sollte. Ich hätte diesen Prozeß aus reiner Neugier gerne beobachtet, wenn ich denn schon nicht schlafen durfte in dieser Nacht, aber auch als ich mich vor den großen Spiegel im Bad setzte, mußte ich zur Decke aufschauen, und die Zahlen regneten in mein Gesicht. Ich schlief dann ein. Ich mußte, sonst wäre ich gestorben, und die Helfer hatten ein Einsehen mit mir. Als ich aufwachte, war mir die Tageszeit unbekannt. Ich sah in den großen Spiegel (der eigenartige Sinn der Helfer für Humor) und faßte in mein langes Haar, dunkel und voll. Ich hatte ein breites Gesicht mit mandelförmigen Augen darin, einer kleinen Nase und hohen Wangenknochen. Ich hatte einen leicht bitteren Mund. Ich hatte überhaupt etwas leicht Bitteres und Empörtes in meinen Zügen, und ich war sehr hübsch. Meine Brüste waren klein und fest. Ich berührte meine Scham. Ich lachte vor Wut. Freud hatte recht gehabt. Vielleicht nicht mit dem Penisneid der Frauen. Aber doch sehr mit der Kastrationsangst der Männer. Ich lachte und lachte, und meine Stimme glitt
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