Das Jahr der Maus
dabei höher hinauf, als ich hören wollte.
Wer bin ich.
Karin Hallstadt.
Ihr wißt genau, was ich meine.
Du hast dich so lange geübt,
so etwas nicht wichtig zu finden.
Das gibt euch noch lange kein Recht …
Wir brauchen dein Recht nicht.
Zumindest gaben sie zu, daß ich einmal ein Mann gewesen war. Nachdem ich mich angezogen hatte, zog ich eine Schublade an der Kommode links neben meinem Bett auf, weil ich neugierig war. Die Fotos in der Schublade zeigten mich mit meinem Mann, mich als junges Mädchen, mich als Schulkind, mich als Säugling. Da kamen mir die Erinnerungen wieder. Wie ich als kleines Kind gewesen war. Wie ich als kleines Kind verbrannt worden war. Was der Onkel mit mir gemacht hatte. Und ich setzte mich auf das Bett zurück, als hätte mich jemand in den Magen geboxt. »Ihr Schweinehunde«, sagte ich, sobald ich wieder sprechen konnte. Ich war Karin Hallstadt, und hatte ein Problem. Die Fotos waren leicht zerknittert, als ich die Hand wieder öffnete.
Warschau ist auch nichts. Eine Stadt wie nach der Neutronenbombe, bewohnt von lauter Gespenstern. Außer dem Bahnhof und dem Rummelplatz, der ihn umgibt, sind alle Häuser braun. In den Fenstern flimmert es bläulich. Die Fassaden der Häuser sind mit den Rohrantennen für den Satellitenempfang gespickt wie ein Stück Fleisch mit Mandeln. Die Gehirne brutzeln unter fünfhundert Fernsehkanälen, man wundert sich, daß aus den Mauern kein heißes Fett austritt. Aus einem Hauseingang torkeln zwei Betrunkene, ineinander verkrallt. Einer sieht auf, als ich vorbeigehe, da schlägt ihn der andere in die Fresse. Ich könnte der Engel des Herrn sein, es würde niemanden interessieren, wenn ich nicht im Fernsehen wäre. An diesem Gedanken erkenne ich, daß meine schlechte Laune teilweise von gekränkter Eitelkeit herrührt. Lächerlicherweise ist das genau der Sinn meines ziellosen Umherschweifens: nicht erkannt zu werden. Andererseits war die Fee aus dem ST Hamburg – Wien auch auf dem von Wien nach Warschau, oder habe ich mich geirrt? Und wenn nicht? Es kann ein Zufall sein. Es wäre aber keiner. Im Bahnhof sehe ich der Werbung für die nächsten Jahrzehnte zu. Auf einer gigantischen Leinwand wird das Wachstum des Bahnnetzes simuliert, rote Finger greifen weiter nach Osten und Süden, während das ST-Logo aus der projizierten Landkarte zu wachsen scheint, als sei sie aus heißem und dehnbarem Metall. Ich will zurück in ein schöneres Elend. Am Kiosk keine Zeitung, deren Sprache ich verstehe. Und für das Infonet-Terminal will ich kein Geld ausgeben, ganz einmal davon abgesehen, daß ich dann meine Umgebung aus den Augen verlöre. Setz dich hin und warte.
»Setzen Sie dich«, sagte der Mann, und lächelte über seinen eigenen Versprecher. »Ich darf doch du zu Ihnen sagen, Karin?«
Ich stimmte mit einem halben Kopfnicken zu. Die Wände waren weiß getüncht. Ein Fenster stand offen, hinaus in den Vorfrühling. Hinter dem Mann hing ein Bild an der Wand, auf dem ein schwarzer Pfeil senkrecht nach unten zeigte, auf eine Ansammlung von Linien, die von meinem Sitzplatz aus nur zu ahnen war. Kannte ich. Paul Klee. ›Betroffener Ort.‹
»Karin?« fragte der Mann und versuchte seiner Stimme einen unsicheren Beiklang zu geben. Er war nicht unsicher. Er war nie unsicher.
»Herr Kuhlmann?« fragte ich zurück.
»Warum kommst du zu mir?«
»Lassen wir es fürs erste noch beim Sie, Herr Kuhlmann. Ich komme zu Ihnen, weil ich ein Problem habe.«
Sehr gut. Tu so, als seist du im Widerstand. Das mögen Therapeuten gern. Kuhlmann nickte weise.
»Sie sind ein Spezialist für diese Art von Problem.«
»Sie haben da etwas am Telefon angedeutet. Sexuelle Probleme. Ich will Ihnen von Anfang an reinen Wein einschenken. Meine Theorie …«, sagte er und beugte sich verbindlich etwas nach vorne, »meine Theorie besagt, daß die sexuellen Probleme von Erwachsenen in der Kindheit dieser Erwachsenen angelegt wurden. Man muß an die Quelle des Übels, um es auszurotten. Das klingt bekannt. Weniger bekannt wird sein, daß es spezielle Methoden gibt, um schnell an diese Quelle zu kommen. Bei den Kollegen Analytikern brauchen sie ein halbes Leben. Eine normale Gesprächstherapie kriegen Sie nicht unter drei Jahren. Verhaltenstherapie kommt kürzer, aber sie nützt bei dieser Art von Problem nichts. Bei mir können Sie wirklich gesund werden. Schnell.«
»Wie schnell?« fragte ich.
»Sehen sie, normalerweise veranschlage ich ein halbes Jahr. Wenn ich Sie
Weitere Kostenlose Bücher