Das Jahr der Maus
mir so ansehe, dann könnte das bei Ihnen noch schneller gehen.«
»Warum?« fragte ich, als sei ich mißtrauisch. Er blickte auf die Tischplatte hinab.
»Ich bin jetzt zwanzig Jahre in diesem Beruf. Nach zwanzig Jahren bekommt man einen gewissen Blick für Menschen. Nicht daß ich behaupten würde, Sie zu kennen. Aber wie Sie hier hereingekommen sind, wie Sie hier sitzen, wie Sie reden, das gibt mir doch in einer Frage Sicherheit: Sie wollen gesund werden. Das freut mich. Ich rechne bei Ihnen mit einem Durchbruch in den ersten Sitzungen.«
Die Vögel zwitscherten. Es würde noch warm werden heute. Wir schwiegen eine Weile, und ich erkannte, daß Schweigen zu den Stärken des Herrn Kuhlmann gehörte. Herrn Dr. med. Kuhlmann, wenn es beliebte.
»Eins müssen sie begreifen.« Er brach die Stille in einem mathematisch genau berechneten Moment; einen Herzschlag, bevor ich irgend etwas geredet hätte, um sie nicht ins Peinliche auswachsen zu lassen. »Es geht hier um Vertrauen. Vertrauen ist bei meiner Art zu arbeiten unerläßlich. Vertrauen entsteht in einer gemeinsamen Übereinkunft, wenn Sie so wollen, einer gemeinsamen Verschworenheit. Haben Sie einen Freund, Karin?«
»Nein«, sagte ich bitter, »ich habe sexuelle Probleme.«
»Ah«, sagte er, erleichtert, daß sein Vorstoß nicht zu unangenehmen Nachfragen geführt hatte. »Das werden wir ändern. Im Grunde geht es nur darum: daß Sie hier vertrauen und lieben lernen. Und jetzt möchte ich von Ihnen nur noch eines wissen: Was genau ist Ihr Problem?«
Unauffällig und doch unübersehbar standen ihm Schweißperlen auf der Stirn. Dabei sprach er so locker und leicht wie bei einer Unterhaltung unter Freunden.
Der Schmerz war echt, denn er nistete in meinem neuen Körper selbst. Da mein Gedächtnis ihn nicht gewollt hatte, war er in die Zellen gewandert, um sich dort eine dauernde Heimstatt zu suchen. Ich war laut meiner Legende in den letzten Jahren ein Dauergast bei den Ärzten gewesen, wegen Darm-, Eierstock-, Nierenbecken-, Harnröhren-, Scheidenentzündungen. Alle Organe unterhalb meines Herzens hatten in den letzten Jahren dazu geneigt, sich in monatlichen Abständen zu entzünden, und als Dr. med. Kuhlmann seine Frage nach dem genauen Problem gestellt hatte, fühlte ich mich genau so. Ich konnte den Rotz und das Wasser die Nase hinaufsteigen spüren, und ich haßte und verachtete mich deswegen, wie ich mich als kleines Mädchen gehaßt und verachtet hatte, so lange, bis meine Tränen ausgeblieben waren.
»Mein Onkel«, sagte ich so beherrscht wie möglich, »war ein Schwein.«
Kuhlmann ließ mich ausweinen. Dann stand er von seinem Platz hinter dem Schreibtisch auf und setzte sich neben mich auf die schmale Couch. Ich konnte sein Rasierwasser riechen. Er legte seinen Arm um mich und zog mich leicht zu sich heran. Diese Geste hätte mich beinahe noch einmal zum Weinen gebracht, aber ich verbot mir das. Er drückte mich noch einmal väterlich, dann stand er auf, und wartete darauf, daß ich dasselbe tat. »Nur Mut, Karin. Bis zum nächsten Mal.« Er hielt beim Händedruck meine Hand etwas zu lange. Auf dem Kiesweg zur Straße ging ich wie auf Eiern.
Alles stumm. Die Tänzer und Musiker auf dem kleinen Bildschirm in der Bar waren stumm vor Lärm, denn die Musik, die sie antrieb, wurde von tausend anderen Geräuschen weggeblasen wie nichts. Dabei war der billige russische Fernseher sicher so weit aufgedreht wie nur möglich, denn das war hier die Arbeitsgrundlage. Alles so weit aufdrehen wie nur möglich: Musikboxen, Fernseher, Playstations, Zapfhähne, alles. Es roch nach dem naturidentischen thailändischen Bier, dessen Name angeblich übersetzt ›Liebende Güte‹ hieß. Ein Reichswehrsoldat saß vor einer Playstation und übte fürs nächste Manöver. Als der feindliche Panzerverband von einer taktischen Nuklearexplosion zerblasen wurde, traten seine Schädelknochen hervor, als würde er geröntgt. Außer ihm war ich der einzige Gast, und da er auch nicht völlig anwesend war, fühlte ich mich gediegen einsam. So what, Titten und Bier waren ohnehin nicht meine Stärke. Ich sah mal wieder anders aus. Im bedruckten Spiegel über den Flaschenbataillonen, auf dem zu lesen stand, daß Guinness gut für mich sei, erkannte ich mich sogar wieder. Ich hatte das satt. Ich ging nach draußen. Draußen war, wo die Züge rauschten. Alles frischgewaschen, das dunkelhäutige Reinigungspersonal war heute schon zum zweiten Mal über die Steinplatten gejagt worden.
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