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Das Jahr der Maus

Das Jahr der Maus

Titel: Das Jahr der Maus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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unter meinem wahren Namen reise, kann ich leider nicht zuerst die Auskunft mit einer Anfrage nach einer Nummer in Corpus Christi, USA belästigen und dann die CSCU erschrecken, indem ich behaupte, ihr Automatenhotel an der A 8 München-Stuttgart in good old Germany habe soeben Feuer gefangen. Obwohl ich wahrscheinlich sowieso nur bei einer supersmart und professionell klingenden Voice landen würde, die im Handumdrehen meinen Anruf nach Schlüsselbegriffen untersucht hätte, um dann in Sekunden die richtigen Nummern von Polizei und Feuerwehr herausgefunden und angewählt zu haben. No fun. Nur der Ernst des kaufmännischen Lebens.
    Am anderen Morgen die Tankstelle. Ich rolle auf meinen letzten Reserven ein. Vor mir eine junge Frau. Sie sieht zum Kiosk hinüber, die Sehne am Hals gespannt. Das Haarband hat ein paar dunkle Strähnen wieder aus dem Knoten entlassen, schwarze, gefütterte Lederjacke, blaue Jeans. Dann sieht sie zuerst auf die Tankuhr, dann durch meine Windschutzscheibe. Sie ist noch weitaus schöner als erhofft. Illegal schön, frisch, natürlich, was immer das auch heißen mag. Ich kann gar nicht anders als lächeln, und weil sie nicht fürchten muß, daß ich ihr jemals auf die Nerven falle, lächelt sie zurück. Sie geht bezahlen. Ich bin verblüffter, als ich sein sollte. Während sie bezahlt, frage ich mich allen Ernstes, wie ich mich verhalten soll. Sie kommt zurück, und in den zwei Sekunden, die sie braucht, um die Tür zu öffnen reicht sie mir ein Lächeln zurück, in dem alles wichtige enthalten ist. Ich nicke, und sie hat verstanden. Jeder weitere Blick zuviel, jeder weitere Kontakt eine Last. Ein Schluck Wasser in der Wüste. Ich kann wieder leben.
     
    Und ich lasse mir Ohrenlider wachsen, die hart und fest, härter und fester werden, bis sie so hart und fest sind wie der Schädelknochen selbst, Ohrenlider auf und zu, zum Schutz vor der Schallwelt. Das Böse ist akustisch. Nur daß leider die Stimmen der Helfer lauter werden, wenn die Welt draußen ausgeschlossen ist. Ausgeschlossen. Selbst die Musik transportiert ja das Böse, sie am allermeisten, und daher müßte eigentlich der industriellen Produktion des Geschwätzes und des Lärms die industrielle Produktion der Stille auf dem Fuß folgen, denn der böse Lärm bereitet den Markt, den die gute Stille bedient. Meine Ohrenlider wären ein serienproduzierter Hit, vielleicht sollte ich sie vermarkten. Einstweilen nützen sie mir nur im stillen. Zum Beispiel fange ich auf dem Weg von Frankfurt nach München in der eisernen Bahn ein Gespräch mit einer älteren Dame an. Wir unterhalten uns über irgend etwas, am besten über etwas, was so nicht weitergehen kann. Ausländer, richtig. Das mit den Ausländern kann nicht so weitergehen, die einen nutzen uns aus, indem sie betteln und stehlen (die ältere Dame ist gut gekleidet), die anderen nützen uns aus, indem sie unsere Geheimnisse auskundschaften und an die Amerikaner und die Gelben verkaufen (die ältere Dame hat keine Geheimnisse, sie liegt offen zutage, ihre Geheimnisse finden auf Kanal 7 statt, dem Mysterychannel). Während sich die ältere Dame mehr und mehr erregt, als würde sie von ihrer eigenen Ahnungslosigkeit immer wieder in den Hintern gebissen, verschließe ich meine Ohrenlider, und je fester sie schließen, desto geräuschärmer wird die Kulisse. Das Gestikulieren und das Gerede der guten Frau wird immer mehr zu einer Pantomime ohne Witz, die nichts weiter als ein gelegentliches Nicken von mir braucht, um wie auf geölten Rädern weiterzurollen, weiterzurollen weiterzurollen. Schließlich ist die ältere Dame erschöpft, und lehnt sich befriedigt zurück. Ab einem gewissen Alter braucht ein Orgasmus einen Aufwand; nichts erleichtert diesen Aufwand mehr als ein dunkles Loch, in das man die eigene Wut und den eigenen Scherz hineingießen kann. Der Grund für die Wut der Alten ist der Fehlgriff der Natur, sexuelle Höhepunkte von sechzig an aufwärts nur noch durch eine zweitweise Abwesenheit von Frustration zu kennzeichnen. Interessant. Ich bin ja noch nicht sechzig. Aber ich erinnere mich genau: Jemand anderes zum Opfer gemacht zu haben, hat sich sechsmal beinahe so angefühlt wie die Erleichterung nach der Ejakulation, an die ich mich düster aus der Zeit erinnere, als ich noch ein sexuelles Wesen war. Schlau gedacht, schlau gemacht von den Helfern. Hormonelle Steigbügelhalter. Aber was die Produktion der Stille angeht, verharre ich beständig auf der Stufe des individuellen

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