Das Jahr der Maus
Menschen deren Herkunft erraten müßte, könnte sie die höchstens bei dreien oder vieren mit Sicherheit bestimmen. Der Gesamteindruck erinnert sie flüchtig an Singa, die Mehrzahl wirkt asiatisch-kosmopolit, wobei sie sich nicht sicher ist, ob unter diese Gruppe nicht viele Native Americans fallen, die aus den südwestlichen US-Staaten emigriert sind, als die damals mächtigste Nation GAIAS in unabhängige Einzelstaaten zerfiel. Hinzu kommt eine Menge Latinos, von spanisch-hellhäutig bis karibisch-afro, die sich vor allem mit ihren grellen Stoffen und gewagten Farbkombinationen zu erkennen geben. Diese Menschen sind das eigentliche Schmieröl zwischen den Ethnien, in ihnen vermischen sich die drei wichtigsten historischen Kulturen des amerikanischen Kontinents. Dazwischen tauchen vereinzelt Afros, die meisten mit Dreadlocks, und einige wenige Anglos in ihrem nüchternen Businesskleidern auf.
Amber lächelt erleichtert, ein warmes Gefühl durchflutet sie. Gut, daß sie sich auf diese Reise eingelassen hat, auch wenn sie sich untergründig davor gefürchtet hat, sich mit ihrer eigenen Vergangenheit wieder auseinanderzusetzen. Es war gleichwohl schön, zurückgekommen zu sein. Sie merkt erst jetzt, daß sie die quirlige, laute Lebendigkeit, die sie hier umgibt, in Singa während all der Jahre vermißt hat.
Sie blickt hoch und sucht im Gewirr der Leute nach einem Fahrer, der eine Namenstafel hochhält. Sie entdeckt das gelbe Schild mit den in Großbuchstaben geschriebenen gemini, und während sie mit dem Blick die dunkelblaue Uniform hochgleitet, fragt sie sich, welcher Herkunft er ist. Und ob er eher gesprächig oder wortkarg sein wird. Sie blickt ins Gesicht des Mannes, der ihr breit grinsend entgegenkommt. Huang!
Er hätte sie so oder so erkannt, wozu also das Schild? Er kostet ihre Verblüffung sichtlich aus: »Hupo, schön dich wiederzusehen. Ledas Fahrer ist krank, da bin ich eingesprungen. Wie war der Flug? Kann ich dir die Tasche abnehmen?«
Sie hätte es ahnen müssen.
Ledas Limousine ist – wie zu erwarten war – auf dem riesigen Parkfeld nicht zu übersehen. Polierte dekorative Chromteile kontrastieren zu einem glänzenden flamingofarbenen Zuckerguß aus Lackfarbe. Von außen sieht das plumpe, schwere Gefährt wie eine Antiquität aus einem 3D-Holomuseum aus, eine dieser benzinbetriebenen Dreckschleudern, die im vergangenen Jahrhundert so beliebt waren, Unmengen Erdöl verbrannten und vor siebzig Jahren endgültig aus dem Verkehr gezogen wurden. Die Restaurierung des Autos und die Umrüstung auf den Brennstoffzellenmotor muß nach Ambers Schätzung mehr gekostet haben als drei neue Privatautos zusammen. Ihre Aversion gegen diese Art von Verkehrsmittel kommt überraschend hoch, die Unmittelbarkeit des Abscheus erstaunt sie selbst. Eine obszöne Art von Protzerei, die sie von Leda nicht erwartet hat.
Kann sich eine Freundin innerhalb weniger Jahre in eine Unbekannte verwandeln, mit der sie lieber nichts mehr zu tun hat? Aber das wäre unfair. Leda hat viel geleistet mit ihrer Bewegung. Amber hat sich entschlossen, ihr persönlich gegenüberzutreten, um einen unverfälschten Eindruck zu erhalten. Denn sie war in den vergangenen Jahren während den Cybertreffen bloß einem Avatar begegnet und nicht der wirklichen Leda Wallenstein. Die meisten Leute mit einem derart hohen Bekanntheitsgrad verstecken sich hinter allen möglichen Abstrusitäten, um sich Langeweiler und Profiteure vom Leib zu halten. Welche Taktik würde sie sich selbst zurechtlegen?
Huang öffnet das Heck mit sichtlichem Stolz, läßt Amber einsteigen und schließt sachte die Tür.
Das Sitzpolster gleicht einem teuren, sehr bequemen Sofa mit Samtbezug. Die Größe des Autos vermittelt von innen eine beruhigende Sicherheit.
Huang, der auf dem linken Vordersitz Platz genommen hat, stellt den Motor an und steuert das Auto manuell aus dem Parking auf eine mehrspurige breite Straße, breiter als Eu Tong Seng. Seltsamerweise stellt er die Steuerung nicht auf Autopilot um, obschon im vorderen Armaturenbrett ein vollständiges Navigationssystem mit allen möglichen Hilfen und Optionen eingebaut ist. Will er ihr Eindruck machen?
Sie findet auf dem flauschigen Polster – silbergrau schimmernder Synthetiksamt – ein Geschenkpaket mit einer goldenen Schleife und bemerkt, wie Huang sie durch den Rückspiegel beobachtet.
»Für mich?« fragt sie.
Huang nickt.
Amber öffnet das Paket bedächtig, sie will weder gierig noch besonders interessiert
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