Das Jahr der Maus
die ökologisch korrekten Selbstversorger umsehen.
Im Grunde genommen kam Ledas Einladung für Amber überraschend, da die beiden Freundinnen in den vergangenen Jahren einen sehr oberflächlichen Kontakt gepflegt haben: Mails zum Geburtstag, ein zufälliges Treffen im Cyberraum, flüchtige Grüße, die durch eine gemeinsame Bekannte ausgerichtet wurden. Die Frauen waren bis über beiden Ohren in ihre Arbeit vertieft gewesen, ihre sozialen Kontakte beschränkten sie auf das rein Geschäftliche. Und da HanNet die Geishas ignorierte, so gut es ging, und die Geishas HanNet zum Feind erklärt hatten, gab es zwischen Amber und Leda keine beruflichen Kontakte.
Offiziell, d.h. ihrem Arbeitgeber gegenüber, ist Amber natürlich als Infobrokerin nach Cali unterwegs, sie hofft, daß sie die beiden gefaßten Aufträge schnell hinter sich bringen kann, denn es handelt sich um reine Routinerecherchen, die den pazifischen Handel und die Entwicklung der Studienfächer in den Einflußgebieten der Thai-Union betreffen. Da Newbang das meistgewünschte Ziel für einen Quicksilver ist, kann sich Amber glücklich schätzen, den Auftrag direkt von Beijing zugeteilt bekommen zu haben.
Amber lehnt sich in den Polstersessel zurück und versucht, ihren Kopf von überflüssigem Ballast freizumachen. Weg mit den Grübeleien betreffend Nelson, über Bord mit den abstrusen Verschwörungstheorien zu Geishas, Zulus und HanNet. Vor ihr liegen sonnige Wochen, die sie unbeschwert verbringen kann, wenn es ihr gelingt, die Affen in ihrem Hirn zu zähmen.
Amber malt sich aus, wie sie einen ruhigen Abend in Ledas Villa im ehemaligen Stadtteil Malibu verbringt, der heute als autonomer Stadtstaat etwa dieselbe politische und wirtschaftliche Stellung wie Singa inne hat. Amber hat Ledas Wohnsitz nie gesehen, weder auf Videodokumenten noch in Cybersimulationen. Aus den mondänen Attitüden der Freundin schließt sie auf einen Marmor-Adobe-Palast inmitten eines mexikanischen Garten Edens.
Eine Durchsage des Flight Attendants erinnert sie daran, daß sie ihre ID durch den Scanner neben dem Bildschirm ziehen muß. Die Immigrationsbehörde ist mit der Machtübernahme durch die Thais unberechenbar geworden, die ehemals ›illegalen‹ Emigrantenströme aus dem Süden werden kaum mehr behindert, während die Reisenden aus den reicheren Ländern oft peinlich genau durchleuchtet werden. Amber besitzt neben der Singapurianischen Staatsbürgerschaft mit ihrer HanNet-Card etwas Gleichwertiges wie Diplomatenpapiere. Diese Karte ratscht sie durch den Scanner. Die Worte CLEAR TO ENTER leuchten sogleich auf, danach WELCOME IN NEW BANGKOK, CALIFORNIA, gefolgt von einem Rattenschwanz an Werbebotschaften auf Amerikanisch, Thai, Latino und Mandarin.
Nach der Landung schlendert Amber durch den am Flugzeug befestigten Andockschlauch in das helle, übersichtliche Terminal des neuerbauten Flughafens. Sie hat bloß eine Tasche mit dem Allernötigsten mitgenommen, um nicht lange an der Gepäckausgabe warten zu müssen. Ihre Wahrnehmung beschränkt sich auf die Veränderungen seit ihrem letzten Aufenthalt, vor etwa acht Jahren. Das war vor dem Erdbeben, als der Flughafen noch LAX hieß und Südkalifornien ein Mitgliedstaat der USA war.
La Reina empfängt sie mit hohen säulengezierten Gängen, die in einem spektakulären Cocktail aus aztekischem Art Deco und dem goldenen Prunk buddhistischer Tempel ausgeschmückt sind, was im Grunde genommen gar nicht schlecht zusammenpaßt.
Comicartige Fresken in mittelamerikanischer Malweise leuchten von den Wänden, dagegen hebt sich das warme Lehmrot der gebrannten Fliesen ab.
In Nischen stehen Messingstatuen nach historischen Thaivorbildern, darunter eine geflügelte Kinnara, eine stehende männliche Gottheit mit vier Armen, wahrscheinlich Vishnu und ein schreitender Buddha. Hier wird nicht mit kalten rechtwinkligen Glas- und Metallflächen ein spröder Realismus zelebriert, sondern es umgibt einem eine subtropisch anmutende Fröhlichkeit, die auf farbigen Mosaikwänden die Ursprünge und historische Ereignisse der hier lebenden Menschen zeigt. Gefiederte Regenbogenschlangen, Surfer, Biotechfabriken, ein Rudel heulender Cojoten und eine meditierende Avalokiteshvara, die auf die Leiden der Welt voller Mitleid herabschaut. Das, was vor zehn Jahren untergründig gebrodelt hatte, hat sich einen Weg gebahnt und ist an die Oberfläche gedrungen. Die euroamerikanischen Mythen sind neuen Gottheiten und Einflüssen gewichen.
Wenn Amber von zehn
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