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Das Jahr der Maus

Das Jahr der Maus

Titel: Das Jahr der Maus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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fluoreszierenden Tönen zeigen ihr, daß ein neuer Lebensabschnitt auf sie zukommt.
    Die unbekannte Schönheit der außerirdischen Frau befremdet sie, obwohl sie genug über Verhaltenspsychologie weiß, um erkennen zu können, daß sie eine Facette ihres eigenen Wesens sein mag.
    Ambers Blick fällt auf die beige tapezierten Wände und die purpurroten Samtvorhänge, die sie nur teilweise zugezogen hat. Ein blendendes Azurblau scheint durch den Spalt. Ihr wird klar, daß sie eine Pause einschalten muß, um zu sich selbst zu kommen. Sie hat genug Creds, um sich einen oder zwei Monate nicht um das Geldverdienen kümmern zu müssen. Zudem muß sie herausfinden, wer Sifu zu knacken versucht und warum dies geschieht. HanNet, die Zulus oder gar freie Quicksilver?
    Amber setzt sich auf, das Hotelbett mit weißen Leintüchern und einer Überdecke aus Synthetikfasern rufen ihr in Erinnerung, daß sie in letzter Zeit zuviel in solchen Absteigen gehaust hat. Die elegante Anonymität der Hotels gab ihr zu Beginn ihrer Karriere den Eindruck, an etwas Großem teilzuhaben. Eine Person zu sein, die die Geschicke der Erde mitbestimmt, auch wenn es nur ein winzig kleiner Beitrag ist.
    Mensch werden – diese Losung hatte ihr die Mutter auf den Lebensweg mitgegeben. Lange wußte Amber nicht, was das heißen sollte, die Worte waren wenig glamourös, tönten nach abgestandenen Weisheiten. Und nun trifft sie die Bedeutung des Satzes mit voller Wucht. Sie ist ein gut geöltes Rad in einem streng vernetzten Organismus geworden, sie hat gewisse Privilegien und Freiheiten, bezahlt dafür auch mit unhinterfragtem Gehorsam und Abhängigkeiten, die sie mit einem Mal einengen.
    Sie steht auf, schiebt den schweren Vorhang zur Seite. Ihr zu Füßen liegt die Altstadt wie ein Dorf aus einem amerikanischen Vergnügungspark, das sich um einen Fluß zum langen schmalen See hinzieht. Dahinter wölben sich sanfte Hügel und zuhinterst im Dunst sind Bergzacken sichtbar, die von frischem Schnee überpudert sind. In Amber meldet sich das Mädchen wieder, das in den Tropen aufgewachsen ist. Sie, die das gefrorene Wasser lange nur in Form von Eiswürfeln aus der Maschine kannte, lächelt verzückt. Kühle Luft wird zu Hause von Klimaanlagen erzeugt und ist nicht durch wechselnde Jahreszeiten bedingt, die durch Winde direkt vom Nordpol beeinflußt werden.
    Der Schnee erinnert sie an die Wintertage in der mongolischen Steppe. Nelsons Nähe, die unbeschwerten Ausritte auf den kleinen zottligen Pferden, obwohl sie beide mit anspruchsvollen zeitintensiven Aufträgen beschäftigt waren. Nelson hatte sich seit einem Monat nicht mehr gemeldet, seine Nachrichten waren in immer größeren Abständen vom Roten Planeten eingetroffen. Sie befürchtete schon, daß er ihr nicht mehr schreiben mochte. Nun war von ihm eine der persönlichsten Nachrichten gekommen, die sie je von einem Menschen erhalten hatte.
    Das Mail erzählt vom Alleinsein in der Dunkelheit und Stille des Weltalls und der Sehnsucht nach einem Zwiegespräch mit einer vertrauten Person. Daß er dafür ausgerechnet an sie gedacht hat. Sie kichert vergnügt; verknallt in einen Astro, der sich für drei Jahre auf den Mars verpflichtet hat, vernarrt in einen charmanten sanftmütigen Macho aus Shiprock, Dine Nation. Sie sendet ihm umgehend den folgenden Text:
     
    Message 15:
    Trans: deutsch-american
    From [email protected] Sep 3 7:33 MET 2073
    X-Sender: [email protected]
    Mime-Version: 5.2
    To: [email protected] (Nelson Martinez)
    Subject: Re: Hi!
     
    Lieber Nelson, Deine Nachricht hat mich berührt. Fühle mich geehrt, daß Du mich als Freundin bezeichnest, das beruht, wie Du hoffentlich weißt, auf Gegenseitigkeit. Ich habe meinen Bericht nach Beijing gebeamt und werde mir einige Wochen freinehmen.
    Zürich erinnert mich mit der Mehrsprachigkeit und dem Tech-Nivo an Singapura. Andererseits hat hier dieser nüchterne, selbstdisziplinierte Geist der Reformation überlebt, den es wahrscheinlich auch in Manhattan gab, als die Insel noch die Metropole des Westens war. Die Europäerinnen sind sehr korrekt, aber es fehlt ihnen an kreativem Chaos. Was soll ich Dir zur Aufmunterung sagen? Mir fallen bloß schale Sprüche ein, die Dir sicher nichts bringen.
    Klar, möchte ich Dich wiedersehen, wenn Du auf unserem Planeten zurückkommst. Hast Du Dir Gedanken darüber gemacht, wie es dann weitergeht? Oder ist das nicht mit Deiner Philosophie zu vereinbaren, den Moment zu leben? Ich schicke Dir ein paar

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