Das Jahr der Maus
wirken. Es kommt ein rechteckiger Plastikkasten, gefüllt mit Wasser und zwei herumschwimmenden Aquariumfischen, zum Vorschein.
Beim zweiten Augenschein realisiert sie, daß die Fische nicht wirklich lebendig sein können, obwohl sie sich sehr lebensecht bewegen und ihre kleinen Augen auf eine zutrauliche Art schimmern. Für rein mechanische Tiere sind sie jedoch zu reell, die Schuppen wirken milchig-kompakt und glänzen an den Bäuchen irisierend, die Flossen schwadern langen Schleiern gleich den Fischkörpern entlang.
Das muß eine neue, optimierte Technik im Bereich des Bioengineerings sein. In einigen Jahrzehnten wird kein Mensch mehr derartige künstliche Mutanten von echten Lebewesen unterscheiden können. Und bis dann wird die Unterscheidung zwischen biotechnisch generiert und traditionell gezeugt und geboren wohl niemanden mehr groß interessieren, außer vielleicht die orthodox religiösen Gruppen.
Huangs Blick verfängt sich in Ambers Augen, die müde-distanziert das wunderschöne Fischepaar bei seinem eleganten Tanz verfolgen. »Magst du die Fische nicht?« Ein unsicherer Unterton ist aus seiner Stimme herauszuhören.
Amber blickt aus dem Autofenster, die Agavenstiele sind zwischen den fleischigen dunkelgrünen Blättern bis zu drei Metern in die Höhe geschossen, sie werden in wenigen Tagen blühen und dann zugrunde gehen. Wo hat sie das letzte Mal Agaven blühen sehen?
»Sie sind wunderbar. Schöner als die alten Sorten. Ein Willkommensgeschenk von Leda?«
Huang kichert vergnügt: »Nein, von mir.«
Amber horcht auf.
»Ich habe ihnen bereits einen Namen gegeben, der Rote heißt Cabernet und der Goldene Sauvignon. Aber du kannst sie gerne anders nennen.«
Cabernet und Sauvignon, das paßt zu Huangs schicken Kleidern und seiner unbekümmerten Art. Amber lächelt ungewollt.
»Du magst sie also doch?«
»Klar. Danke Huang. Ich schätze diese kleine Aufmerksamkeit.«
Aus dem Bodensatz an Erinnerungen steigt diese eine abrupt auf: Als Amber etwa vier Jahre alt war, hatte sie einen echten Hamster als Haustier. Eines Tages war er ohne Krankheitssymptome gestorben. Amber glaubte im ersten Moment, er schlafe, und versuchte ihn wachzurütteln. Sie berührte ihn vorsichtig, da er sie schon mit seinen scharfen Schneidezähnen gebissen hatte. Der kleine pelzige Körper war kalt und starr. Sie weinte sich in den Schlaf und war nicht zu beruhigen. Wenn ihr Hamster gestorben war, wollte sie auch sterben. Seither hatte sie nie mehr ein Haustier besessen.
Etwas Lichtes blitzt hinter dem Autofenster auf. Sie blickt hoch, die endlosen Wassermassen des Pazifik, deren Ausmaß sie jedesmal von neuem überrascht, leuchten ihr entgegen. Das Türkisblau des ufernahen Abschnitts geht fließend in ein dunkles Ultramarin über. Riesige Möwen navigieren mit dem Wind, klugen Segelfliegern gleich, die mit der kleinstmöglichen Anstrengung möglichst weit kommen.
Amber spürt Tränen hochsteigen, eine tiefe Traurigkeit überkommt sie. Sie hat eine solche Gefühlswallung lange verhindern können. Wie lange war sie auf der Flucht vor Erinnerungen gewesen?
Sie hat allen möglichen Personen und vor allem sich selbst beweisen wollen, wie perfekt, unverwundbar und zuverlässig sie sein konnte. Emotionen brachten sie nicht aus dem Gleichgewicht, sie verzichtete auf ein sogenanntes Privatleben, um ihre berufliche Karriere voranzutreiben. Ohne Rücksicht auf ihre eigene Person, ohne Respekt für die Bedürfnisse von Körper und Psyche. Schließlich gab es in heiklen Situationen für jede Schwäche ein Heilmittel. Jetlagpillen, Syntech-Hormone, Stimmungsaufheller, Easy und wie die Substanzen alle heißen. Amber war stolz darauf, seit Jahren nicht mehr krank gewesen zu sein, dafür hat sie übermäßig viel Schlaf gebraucht, um ihr anstrengendes Leben zu verkraften. Sind Bios vor derartigen Stimmungsschwankungen sicher?
Ja, Schlafen ist das beste Heilmittel. Jetzt einfach einschlafen können, alles vergessen. Sich fallen lassen, weggleiten, ganz leicht werden. Sich auf das diskrete Schnurren des Motors konzentrieren und ausatmen.
Amber erwacht zur Abenddämmerung, sie liegt auf einem Sofa in einem großen, hellen Raum. Jemand hat eine Decke auf ihre Beine gelegt. Durch eine offene Balkontür hört sie Wasserplätschern und gedämpfte Stimmen. Ein perlendes Lachen, Frauenstimmen. Die Umgebung erinnert sie an einen Cyberraum, aber nein, sie trägt keine Datenbrille. Manchmal kommt das Erwachen dem Übertritt aus der wirklichen
Weitere Kostenlose Bücher