Das Jahr der Maus
in die virtuelle Welt – oder umgekehrt? – gleich.
Wie lange hat sie geschlafen, ein, zwei Stunden? Sie steht auf, bewegt sich auf die Tür zu, hinter der die Stimmen zu hören sind. Sie sieht drei Frauen in Bikinis auf Liegen in Pastellfarben, sie unterhalten sich angeregt, nippen an Gläsern mit Eistee. Die Blonde mit den sehr kurzen Haaren ist Leda, daneben Lili, der Hongkong-Star. Die Dritte, eine Frau mit Ebenholzteint und einem runden maskenartigen Gesicht, kommt Amber bekannt vor, auch wenn sie sich bisher nie persönlich getroffen haben. Doch, einmal ist sie ihr begegnet, es handelt sich um das Model mit den violetten Augen von der Zürcher Modenschau. Ein Gesicht, das Amber einmal gesehen hat, kann sie jederzeit wieder aus ihrer Erinnerung abrufen. Basistraining für den Job bei Han-Net.
Leda sieht Amber an der Tür stehen und winkt ihr zu. Amber schlendert die wenigen Treppenstufe zum Schwimmbad hinunter, die beiden anderen Frauen sind auf sie aufmerksam geworden. Leda begrüßt sie mit einer herzlichen Umarmung: »Du siehst viel besser aus als dein Avatar. Wäre Zeit, dein Cyberimage aufzumotzen.«
Lili streckt ihr die rechte Hand hin, sehr amerikanisch.
Die dritte Frau wird ihr als Aicha vorgestellt. Sie nickt elegant mit dem Kopf: »Ich freue mich, deine Bekanntschaft zu machen.« Aichas Altstimme tönt warm und rauchig. Hinter der Begrüßungsfloskel schimmert echte Sympathie durch.
Amber setzt sich auf eine der freien Liegen und sieht sich im Garten um. Als sie mit dem Inventar der Pflanzen und Bäume beginnen will – mit den Kategorien einheimisch, von einem anderen Kontinent und biotech –, hält sie inne. Nein, so nicht. Sie läßt den Blick frei über die Anlage schweifen, die Felsen hinunter bis zum Strand, wo der feine, beige Sand von schäumenden Wellen überspült wird. Es beginnt eine sorgenfreiere Zeit, überhaupt ein neues Leben. Sie visualisiert eine leere Hülle, ihre alte Persönlichkeit, die sie nach einer Häutung hinter sich läßt. Es ist Zeit, ein Risiko einzugehen.
»Amber, können wir übers Geschäft reden? Du scheinst abwesend. Amber?« Ledas Stimme verhallt ungehört.
Erst als Aicha ihre Hand auf Ambers Arm legt, wird sie auf ihre Umgebung aufmerksam: »Sorry, ich habe die Jetlagpillen vergessen.«
»Den Chemokram brauchst du nicht mehr. Du wirst von heute an unsere Lebensweise teilen«, eröffnet ihr Leda ruhig, als sei bereits klar, daß Amber länger bleiben wird.
»Also, Lili muß ich dir nicht mehr vorstellen. Sie arbeitet seit einigen Jahren für mich und hat den Kontakt zur ZuluNation offiziell in die Wege geleitet. Wir waren anfangs auf beiden Seiten skeptisch, aber Lili hat mit Aichas Hilfe Respektables zustande gebracht. Aicha ist die Vertreterin der Zulus in Newbang. Ohne ihr O.k. stellen die Geishas niemanden mehr ein. Du wirst in der Zwischenzeit bemerkt haben, daß wir dich intensiv durchleuchtet haben. Du hast die diversen Tests sehr gut hinter dich gebracht. Nun offerieren wir dir einen Job. Aus Geheimhaltungsgründen können wir dir natürlich erst nach deiner Einwilligung sagen, worum es genau geht. Was wir dir bieten können, läßt sich sehen und hängt ganz von deinen Wünschen und Bedürfnissen ab. Du kannst hier an unserem Hauptsitz leben oder weiterhin in Singa. Wir geben dir 48 Stunden Zeit. Willkommen bei den Geisha Sisters, genieße das Leben. Feiere jeden Tag mit Freude und Bewußtsein.«
NELSON
Das Abendessen, zu dem Xango und Huang erschienen sind, verlief ruhig und heiter. Amber hat sich früh auf ihr Zimmer zurückgezogen um nachzudenken. Ihr Körper fühlt sich müde an, ihr Geist rast wie ein Tiger im Käfig.
Amber öffnet die Schiebetür zur Veranda. Bittersüße Abendluft strömt in den Raum, in der Nähe müssen nachtblühende Pflanzen wachsen. Das langgezogene Heulen der Cojoten wird aus einem benachbarten Canyon herübergetragen. Sie schließt die Augen und versucht die Unruhe in ihrem Kopf in klaren Sätzen zu formulieren.
Zuerst die Fragen: Warum sind die Geishas und die Zulus an ihr interessiert? Hat es mit ihren Fähigkeiten zu tun? Mit einer ihrer Recherchen? Mit einem Produkt oder einer Erfindung, mit der sie in Kontakt kam? Wer will Sifu knacken?
Amber beschließt ein paar Runden Mahjongg zu spielen. Das Wegklicken der Steine läßt den unstrukturierten Gedanken im Unterbewußtsein Raum, um sich neu und womöglich schlüssig zu gruppieren. Von fünf Spielen löst sie nur eines, das schwebende Fortune Cookie
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