Das Jahr der Maus
die vielerorts restriktiven Gesetze.
Die Inventarisierung aller auf der Erde vorhandenen DNA-Sequenzen war seit mehreren Jahrzehnten abgeschlossen. Um die Jahrtausendwende war ein richtiggehendes Fieber ausgebrochen, Forscher züchteten Fliegen mit vierzehn Augen und Axolotl ohne Köpfe. Völlig sinnloses Zeugs, da sie die präzisen Baupläne der Doppelhelix des Lebens noch nicht bis in jede Verästelung kannten.
Das DNA-Lexikon für die Produktion der lebenswichtigen Aminosäuren und Proteine ist sozusagen das Strickmuster des Lebens. Nur hatte bisher niemand bis ins Detail herausgefunden, wie die Gene zusammengefügt und angekurbelt werden mußten, um sie mit der Computerwelt vernetzen zu können. Kleine ans Hirn angeschlossene Implantate wie das Übersetzungsmodul waren einfache Spielereien gewesen.
Diese Fische, lebensfähige Hybride aus Eiweißketten und Polymerchips, waren der Beginn eines vielversprechenden Zeitalters. Die abenteuerlichsten Ideen aus erfinderischen Köpfen können mit diesen neuen Möglichkeiten sofort und ohne großen Aufwand umgesetzt werden. Traumhafte Zustände für expandierende Wirtschaftsmächte, nie gekannte Alpträume für die Traditionalisten, die die Natur für ein Werk Gottes halten, an dem Menschen nichts herumzupfuschen haben.
Und doch waren Bios eine Realität, genauso wie das sich immer weiter ausbreitende Cyberleben: Menschen leben mit virtuellen Partnern zusammen, es hatten die ersten Hochzeiten im Netz stattgefunden. Bios zeugen Kinder, auch wenn die Humanforschung noch vor zehn Jahren erklärt hatte, das sei wegen der Unfruchtbarkeit der Klone nie möglich. Mit dieser Zusage hatten sie eine Liberalisierung der genetischen Gesetzgebung erreicht, um sich mehr Spielraum für ihre Forschung zu erkämpfen. Nun beteuerten sie, daß die Bios unkontrolliert und spontan mutiert hätten. Was wirklich geschehen war, konnte kaum mehr rekonstruiert werden.
Wenn Leda tatsächlich in diesem Gebiet mitmischt, und zwar im großen Rahmen, ist sie mit den Geishas auf dem besten Weg, die mächtigsten Konzerne aus dem Rennen zu werfen. Allen voran HanNet, die einen beträchtlichen Anteil ihres Reichtums mit ihren Schweinefarmen für den Markt an menschlichen Ersatzorganen erwirtschafteten. Die jetzigen Außenseiterinnen könnten zu wahren Dominas werden. Eine Tatsache, mit der niemand ernsthaft gerechnet hatte.
Die Chinesen werden keine Freude an einem derartigen Durchbruch haben, gerade weil er aus dem Lager der Feinde kommt. Wenn Ambers Vermutungen wirklich zutreffen, könnte ihr das Ärger, Geld, Macht, Einfluß oder Verderben bringen, je nachdem, wie sie mit den Informationen umgehen wird.
Ein kühler Kopf und sichere Verbündete sind gefragt. Bevor sie irgend etwas zu diesem Thema abspeichert und an HanNet verkauft, wird sie sich mit Sifu beraten müssen. Sie wird in eigener Mission unterwegs sein, Ninja-Stil. Einzig ihr virtueller Verbündeter und seine neugeschaffene Erweiterung Joni werden sie unterstützen und beschützen können. Das ist nicht genug, um lange überleben zu können ohne den Schutz eines Clans. Ambers Herz rast.
Über Videocom fragt die isländische Köchin mit dem Trollgesicht nach den Wünschen fürs Frühstück. »Nichts besonderes, ich schließe mich den anderen an«, sagt Amber tonlos, weil just in diesem Augenblick die nächste Erinnerung vom Boden des Vergessens an die Bewußtseinsoberfläche aufsteigt.
Sifu ist aus einem embryonalen einfachen Programm zu einem hochkomplexen Netz von Daten, Programmen und intelligenten Verteidigungsstrategien erblüht. Nun ist es ihm gelungen, eine zweite Generation von KI zu schaffen. Künstliche Intelligenz schafft wiederum künstliche Intelligenz. Fruchtbarkeit und Vermehrung hält in der virtuellen Welt Einzug.
Sie bekam Sifu, als ihr Lili an einem stickigen Sommernachmittag im Institut ärgerlich eine Diskette mit einem mißratenen Kl-Programm an den Kopf geworfen hatte. Amber hatte sich öfters über die Besessenheit der Freundin lustig gemacht, mit der sie über ihrem Projekt gebrütet hatte. Lili war tage- und nächtelang mit Programmieren beschäftigt gewesen und gleichwohl nicht vom Fleck gekommen. Die Lernfähigkeit des Programms war minimal, der Umfang der verarbeiteten Datenmenge dürftig.
Amber hat die Diskette beiläufig eingesteckt, an einem verregneten Tag wiedergefunden, als sie aufräumte, auf ihren Computer geladen und ohne großen Gedanken aktiviert. Da sie keine konkreten Erwartungen stellte,
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