Das Jahr der Maus
»Ich muß morgen früh raus, Leda nimmt mich zur Besichtigung einer ihrer Biotechfabriken mit. Ich wollte dich sehen, weil ich dir etwas erzählen wollte und nicht um mich mit dir zu streiten.«
»Was wolltest du mir erzählen?«
Amber seufzt und schüttelt bedächtig den Kopf, sie wird ihm besser nichts vom Treffen mit Nelson sagen. Sie umarmt ihn sanft, hält sich an ihm fest. Das erscheint ihr einfacher als nach passenden Worten zu suchen. Sie spricht leise auf ihn ein: »Du stehst mir sehr nah, ich hatte schon lange niemanden mehr in meinem Leben, dem ich so vertraut habe wie dir. Laß mir bitte etwas Zeit, daß ich mich in dieser verworrenen Situation zurechtfinden kann. Ich mag deine direkte, offene Art sehr. Huang, ich entschuldige mich in aller Form. Du bist den Nichtbios ebenbürtig und vielen sogar überlegen. Deine außerordentlichen menschlichen Fähigkeiten werden Anerkennung finden.«
»Schlaf gut«, sagt er tonlos und verschwindet in der Nacht.
JONI
Im letzten Traum vor dem Aufwachen erscheint Amber ein Mann mit weitem weißem Hemd, weißen Hosen, die von den Knien abwärts in schwarzen Gamaschen stecken. An den Füßen trägt er Zehensandalen.
Das kunstvoll hochgesteckte Haar wird von einem breiten kronenartigen Band aus schwarzer Seide zusammengehalten. Durch den Haarknoten ist ein großer angeschwärzter Knochen gesteckt.
Der Mann strahlt eine Art von dunkler Macht aus, die etwas Endgültiges und Ewiges hat, gerade weil sich seine äußere Erscheinung ständig zu ändern scheint. Sein Gesicht gleicht der Wasseroberfläche, von der immer neue Spiegelungen zurückgeworfen werden. Einmal wirkt er wie ein junger Novize, dann werden Falten und Furchen auf der Haut sichtbar, das Haar ist von weißen Strähnen durchzogen. Später zeigt sein Gesicht die sanften Züge einer mütterlichen Chinesin. Seine Persönlichkeit ändert sich mit jedem Atemzug, paßt sich geschmeidig den Worten an, die er ausspricht.
Seine Stimme hat den klaren, artikulierten Tonfall der nördlichen Hauptstadt. Amber ist sich nicht sicher, ob sie richtig verstanden hat, was er sagt. Etwas von einem substanzlosem Bild und einem leeren Gefäß ohne Boden, aus dem alle schöpfen, ohne daß es je aufgefüllt werden müßte.
Amber öffnet die Augen; ein Sonnenstrahl scheint ihr ins Gesicht. Sie hat im Schlaf einen Mann getroffen, der erstaunliche Ähnlichkeiten mit dem Abt des Weißen Wolken-Tempels besitzt, dem Oberhaupt einer der wichtigsten taoistischen Gesellschaften Chinas.
Anläßlich einer ihrer unzähligen Beijing-Aufenthalte hat sie die großzügige Anlage vor etwa drei Jahren besucht. Sie gelangte über eine Brücke in den inneren Abschnitt mit der Halle des Laotse, dem Grabmal des Huangtse, dem Saal mit den bunt bemalten Jahresgottheiten. Die Gottheit ihres Geburtsjahres war korallenfarben bemalt, saß in Meditationsstellung mit erhoben Händen. Aus den beiden Handflächen trat je ein offenes Auge hervor.
Der Abt hatte ihr gesagt, daß sie ein Mensch sei, der sich in der Wahrnehmung auf seine Augeneindrücke verläßt. Erst wenn Amber etwas mit den eigenen Augen sieht, glaubt sie an dessen Existenz.
Amber schaut auf die Uhr, sie hat eine knappe Stunde Zeit, um sich zurechtzumachen. Als sie aus der Dusche kommt, fällt ihr Blick auf das Aquarium mit den beiden Fischen, die sie auf dem Tisch beim Fenster aufgestellt hat. Die Erkenntnis überkommt sie schockartig, als hätte sie einen Schlag auf die Schädeldecke bekommen.
Diese Fische sind weder Tiere noch Mutanten. Cabernet und Sauvignon sind Cyborgs. Roboter, die mit lebender Materie durchzogen sind. Die Biotechnik der Geishas gepaart mit der künstlichen Intelligenz der Zulus. Denjenigen, die diese Verschmelzung möglich gemacht haben, liegt ein schier unendlich scheinendes Feld von neuen Kombinationsmöglichkeiten zu Füßen. Es öffnen sich unbekannte Türen in die Zukunft.
Hardwarechips auf Polymerbasis sind die Träger für biotechnisch generierte Molekül- und DNA-Stränge, die wiederum als Interfaces für den Informationsaustausch zwischen der gewachsenen Materie und den maschinell hergestellten Einzelteilen dienen. Die Natur kann mit der Technik vernetzt werden, sobald die Schnittstellen eingerichtet sind, und eine kompatible Kommunikation aufgebaut ist. Bisher war das in der Grundlagenforschung theoretisch bekannt gewesen, umgesetzt hatte es bisher niemand. Keiner der mächtigen Trusts hatte sich auf diese Gebiet vorgewagt, indirekt gebremst durch
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