Das Jahr der wundersamen Elvis-Vermehrung - Roman
sich vor und küsste meine Stirn. »Du bist ein richtiger Freund.«
Der Kater Elvis, offenbar satt und auch sonst zufrieden, rieb sich an allen erreichbaren Menschenbeinen.
Walk On The Wild Side
von Lou Reed. »Jackie is just speeding away – Thought she was James Dean for a day …!« Dazu passte Whiskey einfach besser als Kaffee.
Draußen fühlte ich mich so ungeschützt wie schon lange nicht mehr. Es lag nicht an der Kälte. Ich mied das Licht, so weit es möglich war, wusste natürlich, dass auch die von Berti auf mich angesetzten Bluthunde die Dunkelheit bevorzugten. Vermutlich schnüffelten zudem zahllose Denunzianten durch die Straßen. Was sich hier an suspekten Gestalten herumtrieb! Der kleine Junge da vorn, der mich so schamlos anglotzte – ein Denunziant? Für eine Handvoll Gummibärchen? Was wusste ich denn über diese Gegend? Die Alternativen, die vermehrt in dieses Viertel zogen und ihm allmählich Farbe gaben, gehörten vermutlich nicht zum Netzwerk von St. Pauli-Gangstern. Aber die Junkies, die es hier ebenfalls reichlich gab, empfand ich als potentiell gefährlich. Viele von denen würden sich nicht gerade für Gummibärchen, aber schon für eine Handvoll Silberlinge auf jeglichen Scheiß einlassen. Denen bedeutete ich nicht mehr als die Fliegen auf ihren verpissten Matratzen. An käuflichen Alkoholikern mangelte es auch nicht. Jugendliche türkischer, arabischer, pakistanischer Abstammung, die von Deutschen nicht viel hielten und obendrein immer knapp bei Kasse waren, hätten bestimmt nichts gegen ein paar leicht verdiente Scheine. Ach, Scheiße, Mann, schon wieder diese Vorurteile.
Der Perser staunte nicht schlecht, als ich ihm zehn falsche Hunderter in die Hand drückte. »Hast du Wort gehalten«, sagte er fast zärtlich. Was er mit den Blüten machen würde, interessierte mich nicht. Ich hatte acht der falschen Scheine behalten, ohne genau zu wissen, was ich damit anfangen sollte. Ein unbewusstes Hamsterverhalten, vermutete ich.
Mit einem Einkaufswagen raste ich durch einen Supermarkt, schnappte mir eine Plastikwanne, in die ich einen Sack Katzenstreu, Dosenfraß für mich, Dosenfutter für die Katze, Kaffee, Jim Beam, Vollkornbrot und eine Salami warf. Gedränge vor den Kassen. Schlechte Stimmung, weil alle nach Hause wollten. Weihnachten stand vor der Tür, und alle wussten, dass Weihnachten eher eine saumäßig teure denn eine besinnliche Zeit ist.
Aufatmend schloss ich die Wohnungstür von innen und freute mich, dass Elvis mich maunzend begrüßte. Die Plastikwanne, das Katzenstreu – Elvis der Kater verstand sofort, stieg ins Elvis-Klo, pisste ausgiebig, schaufelte Sand auf die feuchte Stelle und schaute mich anschließend beifallheischend an. Ich lobte ihn natürlich.
Am diesem Samstagmorgen war die Luft so klar, dass mir der Blick aus dem Gaubenfenster zum ersten Mal gefiel. Sattblauer Himmel, ein paar strahlend weiße Wölkchen – und die Konturen der Stadt so scharf, die Farben so kräftig. Aus dem Kassettenrekorder schwebte die Stimme von Joni Mitchell:
Carey
. Ein Sommer-Song – »Come on down to the mermaid cafe and I will buy you a bottle of wine – And we’ll laugh and toast to nothing and smash our empty glasses down …!« Die Türklingel, blechern schrillend, vermutlich vor Jahrzehnten installiert und als Erschreckungsinstrument konzipiert, verursachte sekundenlang eine Überforderung meines Nervensystems, das einem überlasteten elektrischen Schaltkreis glich, der gleich zischend und funkensprühend verschmoren würde. Ich hielt den Atem an.
»Ich bin’s, Bülent.« Die Stimme schien sich mühevoll durchs Schlüsselloch zu zwängen. Okay, alles klar. Geräuschvoll zog ich Luft durch meine Nase und fühlte, wie sie sich beruhigend in den Lungen ausbreitete.
»Hast du Hunger?«, fragte ich, während ich die verkratzte Pfanne auswischte. Aber er hatte schon gefrühstückt. Lieblos schlug ich drei Eier in die Pfanne, würzte sie und schaufelte sie auf eine Scheibe Vollkornbrot. Und während ich das Zeug lustlos vertilgte, sahen mir Bülent und Elvis dabei zu, wie Wissenschaftler, die das erste gefangene Exemplar einer kürzlich erst entdeckten und schon vom Aussterben bedrohten Spezies bei der Nahrungsaufnahme beobachteten. Sie schwiegen, speicherten aber vermutlich ihre Eindrücke akribisch im Gehirn.
Eigelb floss von meinen Lippen, Fett tropfte auf mein Kinn. Ich wischte mit dem Handrücken über Lippen und Kinn, fühlte mich unsicher unter diesen Blicken und
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