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Das Jahr der wundersamen Elvis-Vermehrung - Roman

Das Jahr der wundersamen Elvis-Vermehrung - Roman

Titel: Das Jahr der wundersamen Elvis-Vermehrung - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dittrich Verlag GmbH
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Drecksack, jawohl, dem Drecksack, ich hatte mich in diesem Moment gegen ihn entschieden, und Rupf, die Sau, beugte sich schmierig zu ihr herunter, mit Kussmund, warf einen kurzen Blick zu unserem Tisch, schickte uns ein Grinsen rüber und reckte einen Daumen in die Höhe. Dann flitzte Doris mit gerötetem Gesicht zurück zum Tisch und warf sich aufgeregt auf ihren Stuhl.
    Gern hätte ich sie jetzt einiges gefragt, aber Rupf fing schon an zu reden, so locker wie Heinrich Lübke – nach meiner nicht unbedingt objektiven Ansicht. Mit ein paar aufmunternden Sätzen und einem ernstgemeinten Appell ans Vergnügungspflichtbewusstsein des hochverehrten Publikums versuchte er die Leute zu motivieren. Leider vergebens. Aber unbeirrt, tapfer sowieso – und vermutlich mit einem dicken Fell gesegnet – fing er dennoch an zu singen. Die langsamen Sachen. Mit tremolierender Stimme, lustlos begleitet von den Band-Mitgliedern, deren Verhältnis zu ihren Instrumenten und zur Musik offenbar frei von lästigen Emotionen war. Mieser Sound. Siegfried Rupf war für mich nur ein trauriger Narr, unfreiwillig komisch, und ich fragte mich, was den Mann dazu bewogen haben mochte, sich in seinem abgewetzten, schlappernden Elvis-Kostüm immer wieder unverdrossen auf niedersächsische Provinz-Bühnen zu wagen.
    In dem Moment, in dem endlich was Rockiges kam –
Stuck On You
–, als der Gitarrist endlich loslegen durfte, als Rupf »Hide in the kitchen, hide in the hall – Ain’t gonna do you no good at all …!« ins Mikrofon röhrte, das Publikum immerhin mitklatschte und Doris verzückt quietschte, verlor Bülent die Beherrschung, leerte bebend den fünften Drink in einem Zug, knallte das Glas auf den Tisch, sprang auf und brüllte: »Ich bin zehnmal besser als du! Du Niete! Außerdem hau ich dir auf die Fresse, weil du die Freundin meines Freundes angefasst hast! Mit deinen Schweinefingern!«
    Die Show ging weiter, als wären die Musiker Zwischenrufe dieser Art gewöhnt. Wie ferngesteuert näherten sich zwei kräftige Burschen unserem Tisch, bauten sich, grimmig blickend, vor Bülent auf und sprachen ihn an. Ich konnte nicht jedes Wort verstehen, aber es war klar, dass sie keinen Spaß verstanden.
    Der Türke, leider stockbesoffen, hatte sich im Wunderland des Whisky-Rauschs verlaufen, fühlte sich darin aber sichtlich wohl. Er wirkte verspielt und schien sogar seine Aggressivität zu genießen. Töricht grinsend warf er sein Glas auf die Bühne und brüllte: »Du Eunuch da oben! Du hast keine Eier! Komm sofort da runter! Ich bin der wahre Elvis!«
    Die beiden Saalordner fassten ihn an, er stutzte kurz – und schlug um sich. Nicht ganz so präzis wie in nüchternem Zustand, aber dennoch gekonnt. Karate-Sportler. Und zack, zack, peng knallten die Körper der Gegner hart auf den Boden. Wie zwei abgeworfene Sandsäcke lagen sie da, auf der Tanzfläche, mit schmerzverzerrten Gesichtern. Ein Raunen schwappte durch die Menge. Die Musik brach ab, die Dimmer wurden hochgedreht, ich schloss für zwei Sekunden die Augen. Länger brauchte ich nicht, um alle möglichen Folgen dieser Situation in Form von blitzartig ablaufenden Trailern sehen zu können. Dann sprang ich auf, wollte Bülent unterhaken und nach draußen zerren. Zu spät. Es war nicht die erste Saalschlacht in meinem Leben. Schon gar nicht die härteste. Aber diese betrunkenen fünfzig- bis siebzigjährigen Männer hatten alle den Krieg als Soldaten erlebt und wähnten sich plötzlich erneut in einer Schlacht, vielleicht ihrer letzten Schlacht, und sie schienen den Kick zu genießen, erschauernd den alten Kampfgeist zu spüren, dem Rausch der Siegesgewissheit verfallen zu sein. Zuerst stürzten sich alle, soweit sie konnten, auf den Türken, wutschnaubend und aggressiv, und sichtlich froh, ihren ganzen angestauten Scheiß auf diese rohe Weise rauslassen zu können, kamen sich aber, steif geworden, angetrunken und mangels eindeutiger Befehle, gegenseitig in die Quere und verklumpten, während Bülent, sich auf dem Boden schlängelnd, geschmeidig und flink durch den Wald aus Beinen sauste und den Saal verließ. Siegfried Rupf schrie verzweifelt ins Mikrofon: »Liebe Leute, bitte, das ist doch Wahnsinn! Hört auf! Das ist eine Weihnachtsfeier! Die christliche …!« In Ermangelung eines Sündenbocks wurde er kurzerhand von der Bühne gezerrt, krümmte sich, umringt von aufgeputschten Greisen, auf der Tanzfläche und erwartete sein Ende. Doch seine Jungs von der Band stürzten sich, klug

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