Das Jahr der wundersamen Elvis-Vermehrung - Roman
ihre Chancen ausrechnend, natürlich nicht ins Getümmel, sondern bombardierten den Mob mit den Tombola-Preisen – mit Toastern, Blutdruck-Messgeräten, Teflonpfannen, Harzer Käse, Reiseweckern, Marzipanbroten, Schnapsgläsern und Christstollen, signierten und gerahmten Fotos von Siegfried Rupf – und gaben damit der zur Massenschlägerei ausgearteten Auseinandersetzung den optimalen Kick, denn jetzt wurde verbissen um all die begehrten Konsumartikel gekämpft, auch die Frauen zeigten ihre Krallen, Weihnachtsdekoration flog durch die Luft, Tische und Stühle stürzten um, Gläser, Tassen und Flaschen zersplitterten, Menschen schrieen, brüllten, fluchten, stöhnten, weinten, keuchten, eine furchterregende Lärmkulisse. Als hätte man den Tobenden eine bösartige Droge in ihre Getränke geschmuggelt. Bülents bleiches Antlitz schob sich noch mal für Sekunden in das Licht des Ausgangs. Er glotzte fragend und verständnislos, sein Mund stand offen. Der Junge schien schockiert zu sein. Ich hatte gleich zu Anfang Doris und Juana aus dem Epizentrum des Bebens gedrängt, legte schützend meine Arme um sie und dirigierte sie, immer an der Wand entlang, ins Freie. Die kalte, klare Winterluft umhüllte uns und legte sich kühlend auf unsere heißen Gesichter.
Da stand ja Bülent, hatte sich mit beiden Hände an der Hauswand abgestützt, schwankte dennoch und kotzte sich stöhnend aus.
»Na, du Arschloch«, sagte ich zu ihm. Es klang aber gar nicht so hart. Eher liebevoll.
»Ich sterbe«, keuchte Bülent zwischen zwei Eruptionen, ohne dabei den Kopf zu heben. »Wo, zum Teufel, bin ich eigentlich?«
»Auf der Straße. Das müsste dir schon die Scheißkälte sagen. Wir müssen uns jetzt ganz flott vom Acker machen. Gleich werden die ersten rauskommen.«
»Besoffenes Arschloch«, sagte Doris ganz und gar nicht liebevoll.
»Was hast
du
denn zu melden?« Bülent hob den Kopf, der Versuch einer rotzigen Antwort auf die Beleidigung scheiterte schon im Ansatz. Er sah scheiße aus – so ähnlich wie Kinski in
Nosferatu
, doch ohne den Schimmer des Bösen, eher verwirrt und leidend.
Wir nahmen ihn in die Mitte und schleppten ihn so weit wie möglich aus der Gefahrenzone. Kalter Schweiß lag auf seiner Stirn. »Ich muss nicht sterben?«, fragte er, während er seine Beinbewegungen zu koordinieren versuchte.
»Wir müssen alle sterben«, knurrte Doris, »aber hoffentlich heute noch nicht. Auf jeden Fall muss ich gleich noch mal in diesen Scheißladen, um zu sehen, ob von Siegfried noch was übriggeblieben ist.«
»Das tust du nicht oder nur über meine Leiche«, lallte Bülent. »Du darfst diesen Mann nicht wiedersehen.«
»Was redet der Typ dauernd für eine Scheiße, Mann? Das nervt mich tierisch.« Doris war von Weihnachtsstimmung weit entfernt.
»Diese türkischen Ehrbegriffe«, raunte ich ihr zu. Mir war das Thema so peinlich wie der ganze bisherige Abend. »Er glaubt, dieser Elvis-Verschnitt habe dich mir sozusagen geraubt.«
»Geraubt, ganz genau.« Aus Bülents Mund tropfte Speichel. »Ich mach ihn fertig, den dicken Clown.«
»Im Moment bist
du
aber fertig«, sagte Juana, die bisher stumm hinter uns hergetrottet war und schon im Saal nicht verstanden hatte, wieso es plötzlich zu einer Massenschlägerei gekommen war.
Mehrere Polizeisirenen näherten sich von verschiedenen Seiten, in mir sofort den Alarm-Effekt auslösend: Personalausweis dabei?, verräterische Gegenstände dabei – und wenn ja, wohin damit?, welche Fluchtwege sind noch offen?, könnte ich im Fahndungsbuch stehen?
Der Weg zum Hotel schien zwischenzeitlich auf mysteriöse Weise um ein Vielfaches länger geworden zu sein. Ich stellte mir vor, wir wären die einzigen Überlebenden einer Schlacht, abgerissene, ausgelaugte Gestalten, mit einem Schwerverletzten in unserer Mitte, auf der Flucht vor den Siegern.
Das Hotel, die Trutzburg, da vorne. In Sicherheit.
An der Rezeption gab es keine Schwierigkeiten. »Es ist sein erster Vollrausch«, erklärte ich der gutmütigen Alkoholikerin, die uns bereitwillig und verständnisvoll die Schlüssel aushändigte.
»Eigentlich dürfen Hotelgäste nach 22 Uhr keine Besucher mehr empfangen.« Sie zuckte mit den speckigen Achseln. »Aber was soll’s, ist ja Weihnachten.«
»Beschissene Weihnachten allerseits«, lallte Bülent. Die Alkoholikerin und ich schmunzelten uns verständnisvoll an.
Endlich lag Bülent auf seinem Bett, in Embryo-Stellung, brabbelte irgendwas vor sich hin, dann schnarchte er.
Der
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