Das Jahr der wundersamen Elvis-Vermehrung - Roman
die
Mao-Bibel
vertieft und bin auf eine Menge nützlicher Methoden gestoßen. Ich warne Sie also! Lassen Sie es nicht so weit kommen!«
»So weit ist es doch längst gekommen!«, donnerte Herr Schmehle, dessen burgunderrotes Gesicht auf hohen Blutdruck schließen ließ und dessen auf der Magengegend liegende Hand den Verdacht auf Magengeschwüre zu bestätigen schien. »Das massenhaft zu Bruch gehende Geschirr, die Salzstreuer, die jeden Tag auf rätselhafte Weise geleert werden, obwohl das Essen angeblich dauernd versalzen ist, verstopfte Toiletten, sogar abgerissene Tapetenfetzen! Das ist doch die Guerilla-Taktik! Ja, mein Gott, wo sind wir denn hier? Wollen Sie sich etwa der RAF anschließen? Ist denn das ganze Land verrückt geworden? Ich sage nur: Scheiß-Demokratie!«
»Reden Sie keinen Quatsch, Mann! Glauben Sie, wir seien Idioten, die ihre eigenen Klos verstopfen und Tapeten von den Wänden reißen? Sie sind doch nicht ganz dicht! Der ganze Laden hier ist ein Saustall! Wenn Sie wüssten, was wir mit Guerilla-Methode meinen, würden Sie nicht mehr über leere Salzstreuer nachdenken, sondern sich vor Angst in die Hose scheißen!«
Frenetischer Beifall der übrigen Gäste. Doch mein Chef ließ sich keineswegs einschüchtern: »Na, da bin ich aber mal gespannt! Zu Ihrer Information, Sie Großmaul: Ich bin bewaffnet und werde rücksichtslos von der Schusswaffe …!« Erwartungsgemäß wurde er niedergeschrieen, die Stimmung tendierte zweifellos in Richtung Explosion, als Doris auf der Szene erschien, der gute Engel des Hauses, freundlich wie immer, noch dazu mit Brüsten gesegnet, die selbst einen ausgelaugten arthritischen Rentner zum Träumen brachten. »Liebe Leute«, sagte sie, wie immer verständnisvoll lächelnd, »Sie würden mir einen großen Gefallen tun, wenn die Diskussion sachlich, ein wenig leiser und ergebnisorientiert verliefe. Außerdem kann ich meiner Arbeit nicht nachgehen, wenn alle hier herumstehen. Vielen Dank für Ihr Verständnis.«
Grummelnd wurde die Revolution vertagt. Doris räumte das Geschirr ab, füllte die abermals leeren Salzstreuer wieder auf. Ich machte in der Küche klar Schiff und musste dabei die Hasstiraden meines Chefs ertragen, was allerdings ganz aufschlussreich war, denn Herr Schmehle entpuppte sich mit Sprüchen wie »Für solches Gesindel ist ein KZ der richtige Ort«, oder »Unter Hitler war nicht alles falsch«, als verdammter Nazi. Ich hielt den Mund, denn wenn ich das, was mir dazu einfiel, geäußert hätte, wäre ich fristlos gekündigt worden, was die Vertreibung aus Doris’ unmittelbarer Nähe bedeutet hätte.
Abends, wieder in der Kneipe, erzählte ich Doris von meiner Kindheit in Würzburg, das ja ebenfalls am Main und nicht weit von ihrer Heimatstadt Lohr entfernt liegt, von meiner Lehrzeit in Kitzingen am Main, von den strengen Regeln in meinem Elternhaus, von den Erwartungen der Eltern an mich, denen ich entweder nicht gewachsen war oder die ich ganz einfach nicht erfüllen wollte – keine Ahnung, vermutlich hatte schon früh ein unbewusstes Aufbegehren mein Tun oder Unterlassen bestimmt. Das Schlimmste, klagte ich Doris, sei die Verteufelung des Rock’n’Roll und des Beat gewesen. Nichts habe den Alten an mir gefallen, ständig hätten sie mir wegen der langen Haare die Hölle heiß gemacht, mich beschimpft, weil ich für kurze Zeit Sänger in einer Beat-Gruppe gewesen sei, ich sei schockiert gewesen, als mein Vater 1965 mit grimmiger Genugtuung gesagt habe, in der DDR sei jetzt die Beat-Musik verboten worden, und den dortigen Langhaarigen würden ihre Mähnen gewaltsam abgeschnitten, das sei die erste vernünftige Maßnahme der Kommunisten, aber hier, in dieser verweichlichten Demokratie, sei so was ja leider nicht möglich. »Da hab ich mich vermutlich innerlich von meinen Eltern verabschiedet. Und nicht nur von ihnen, sondern von der ganzen Spießergesellschaft, denn ich wurde ja überall – in meinem Lehrbetrieb, in Kneipen, auf der Straße – ständig wegen der langen Haare angepisst, die natürlich nicht richtig lang waren, damals noch nicht mal die Ohren ganz bedeckten. Damit will ich meine Straftaten nicht entschuldigen. So einfach mach ich mir’s nicht. Aber dadurch hat sich diese Außenseiterhaltung in mir verfestigt – anfangs noch romantisch verbrämt, klar, vor allem durch die Bekanntschaft mit einem Amerikaner, der mir lauter verbotene Dinge beibrachte, den ich für eine Art James Dean hielt –, oder vielmehr für den Typ, den
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