Das Jahr der wundersamen Elvis-Vermehrung - Roman
würden. Mann, was für ’ne Story. Nee, nee, ich sag dir was: Wir sind ganz allein, jeder für sich, es gibt keinen Ausweg, keine Erlösung.« Unwirsch wischte ich Regentropfen von Stirn und Nase.
Doris schaute mich eher verstört als missbilligend an. »Deshalb brauchst du dich nicht so aufzuregen.« Sie wischte mit der Hand über ihr nasses Gesicht. »Nach meiner Ansicht gibt es viele Hinweise auf die Existenz Gottes. Ich meine, es muss ja nicht haargenau dieser biblische Gott sein …«
»Ha! Natürlich!« Es freute mich zu meiner innerlichen Beschämung ungemein, dass sie mir eine so schöne Vorlage hingelegt hatte. »Das kenne ich! Wem die Bibel zu peinlich ist, der formt sich einfach einen zeitgemäßen, allerdings ebenso wenig nachweisbaren Gott, der natürlich …«
»Lass uns gehen. Ich hab keine Lust, mir deine Weisheiten anzuhören und dabei geduscht zu werden.« Ihr Mund war verkniffen. Eine unsichtbare Wand hatte sich zwischen uns geschoben. Doris hastete unters Vordach des Personalhauseingangs, wo unser Gepäck auf uns wartete. Grollend, schon weil sie meinen brillanten Vortrag so gnadenlos abgewürgt hatte, folgte ich ihr.
Und später im Bus starrte ich schweigend aus dem Fenster auf den Wald, in dem Nebelfetzen wie zerrissene Laken hingen. Die Erkenntnis, dass wir sehr wenig von einander wussten, dass wir wahrscheinlich im Laufe der nächsten Wochen unsere unangenehmen Eigenschaften und die bisher erfolgreich, wenn auch mühsam versteckten schlechten Angewohnheiten peu à peu hervorholen würden, bedrückte mich. Im Knast wurde, um nur ein Beispiel zu nennen, ungehemmt gefurzt. Es gab sogar Furz-Wettbewerbe. Üblicherweise nach dem Verzehr von Erbsensuppe, also samstags. Ich furzte mit Vergnügen, hatte diese für mich äußerst angenehme Betätigung schon in Freds Wohnung ganz und gar – ein Akt der Selbstkasteiung – unterdrückt, und in Doris’ Gegenwart bisher nicht mal daran gedacht. Doch es war für mich undenkbar, diesem Spaß für immer zu entsagen. Meine einzige diesbezügliche Hoffnung war, dass sie ebenso gern furzte und nur darauf wartete, es endlich wieder frei und ohne Reue tun zu dürfen. Ob sie in diesem Moment ähnliche Gedanken hegte? Oder spielte sie schon mit dem Gedanken an Trennung? Hatte sie während meines brillanten Vortrags festgestellt, dass wir nicht zueinander passten? Hatten sich in ihr zumindest vage Zweifel eingenistet? Zweifel, die nicht viel an Nahrung brauchten, um zu wachsen und zu gedeihen?
Im Zug von Tegernsee nach München erster Augenkontakt. Die Gesichtszüge entspannten sich, wurden weicher. Das erste Lächeln. Na, Gott oder wem auch immer sei Dank.
»Wegen so was müssen wir uns nicht streiten«, sagte sie entschieden. Ich stimmte sofort zu – und dann knutschten wir bis München-Hauptbahnhof.
Doppelbett, schiefer Schrank, ein Tisch, zwei Stühle, ein Waschbecken, Fernseher. Das Hotelzimmer bot, vom Fernseher abgesehen, so wenig Komfort wie die Personalzimmer in Bad Nauheim und im Hotel
Großbauer
, war aber dafür mit 40 Mark pro Tag bedeutend teurer. Schäbige Absteige, nicht weit vom Hauptbahnhof entfernt, genauer gesagt in der Schillerstraße. Schäbige Gegend mit schäbigen Kneipen und den dazu passenden Individuen. Arme Schlucker vor allem. Bei Anbruch der Nacht durchpflügten Verbrecher der oberen Ränge klischeehaft die Luft in diesen Straßen, verursachten Bugwellen der Unruhe, und in dem Strudel, den sie hinter sich herzogen, wurden murmelnd Legenden über sie verbreitet. Auf beiden Seiten der Straßen kauerten, eilten, lungerten, standen, huschten, hetzten oder schlenderten: harte Typen, harte Frauen, Freier, Spanner, Bullen, Dealer, Kunden, Diebe, Hehler, Spieler, Trinker, Fixer, Penner, Wegelagerer und deren Opfer, Betrüger und Gimpel, Arme, Reiche, Schöne und Hässliche, die Hoffnungsvollen, von sich und ihrem Handeln Überzeugten, die Gebeugten, von Anfang an Geschlagenen, für die schon das Übermorgen völlig im Nebel lag; die Reifen dicker Limousinen surrten über nassen Asphalt und schufen Sprühfontänen-Ketten, Neonlicht spiegelte sich in Pfützen. So sahen alle Rotlichtviertel aus. Ich kannte das. Aber auch hier: erstaunlich viele Ausländer, sogar, wie übrigens auch in Hamburg, nicht wenige in der Tracht ihrer Heimat. »Vielleicht«, sagte ich nachdenklich zu Doris, »sind das gar keine Ausländer mehr, vielleicht sind die meisten keine Gastarbeiter, sondern Mitbürger. Ich hab schon reichlich Geschäfte und Kneipen
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