Das Jahr Des Werwolfs
eingestellt zu sein scheinen, daß die Zeiger in einer vollen Stunde nur um eine Minute weiterrücken. Männer streiten sich aus nichtigsten Anlässen mit ihren Frauen, und bei O’Neils Tankstelle an der Town Road vor der Auffahrt zur Fernstraße beschwert sich ein Tourist bei Pucky O’Neil über die Benzinpreise, und Pucky schlägt dem Burschen das Zapfventil ins Gesicht. Der Mann stammt aus New Jersey, und seine Oberlippe muß mit vier Stichen genäht werden. Bevor er weiterfährt, murmelt er böse etwas von Anzeige und teuren Rechtsanwälten.
»Ich weiß nicht, warum der Kerl sich aufregt«, sagt Pucky abends in der Kneipe mürrisch. »Ich habe nur mit halber Kraft zugeschlagen. Wenn ich mit ganzer Kraft zugeschlagen hätte, wäre von seiner Fresse kaum noch etwas übrig.«
»Klar«, sagt Billy Robertson, denn Pucky sieht ganz so aus, als würde er ihn auch schlagen, diesmal mit ganzer Kraft, wenn er nicht zustimmt. »Wie war’s mit noch ‘nem Bier, Pucky?«
»Verdammt gute Idee«, sagt Pucky.
Wegen etwas Ei, das die Geschirrspülmaschine an einem Teller gelassen hatte, schlägt Milt Sturmfuller seine Frau krankenhausreif. Er schaut nur kurz auf den angetrockneten gelben Fleck auf dem Teller, den sie ihm zum Frühstück hingestellt hat, und schlägt zu. Er schlägt mit ganzer Kraft zu, wie Pucky O’Neil gesagt hätte. »Verdammte Schlampe«, sagt er, als er über Donna Lee steht, die mit gebrochener und blutender Nase auf dem Küchenfußboden liegt und auch am Hinterkopf blutet. »Meine Mutter hat das Geschir immer sauber gekriegt, und sie hatte keine Geschirrspülmaschine. Ich möchte wissen, was mit dir los ist.«
Später wird er dem Arzt in der Notaufnahme des Portland General Hospital erzählen, daß Donna Lee die Hintertreppe hinuntergefallen sei. Die in neun Jahren Ehekrieg demoralisierte und völlig eingeschüchterte Donna Lee wird diese Aussage bestätigen.
Gegen sieben Uhr am Abend der Vollmondnacht kommt Wind auf — der erste kühle Wind dieses langen Sommers. Er bringt Wolken von Norden heran, hinter denen der Mond immer wieder verschwindet. Wenn er dann auftaucht, verwandelt er ihre Ränder in getriebenes Silber. Dann werden die Wolken dichter, und der Mond wird unsichtbar … aber er ist da; die Gezeiten zwanzig Meilen vor Tarker’s Mills spüren seine Anzie
hungskraft, und auch die Bestie, die viel näher ist, spürt ihn.
Gegen zwei Uhr morgens beginnt in Eimer Zinnemans Schweinestall an der West Stage Road, etwa zwölf Meilen vor der Stadt, ein fürchterliches Gequieke. Nur mit einer Pyjamahose und seinen Hausschuhen bekleidet, holt Eimer seine Flinte. Seine Frau, die fast schön war, als er sie 1947 mit sechzehn heiratete, bittet und bettelt und weint, weil sie will, daß er bei ihr bleibt und nicht hinausgeht. Eimer schüttelt sie ab und holt das Gewehr vom Flur. Seine Schweine quieken nicht nur; sie kreischen. Es hört sich an, als hätte ein Wahnsinniger eine Schar sehr junger Mädchen plötzlich aus dem Schlaf geweckt. Er wolle hinausgehen, nichts könne ihn davon abhalten, sagt er zu ihr. Und dann bleibt seine schwielige Hand auf dem Riegel der Hintertür liegen, und er steht wie erstarrt. Ein kreischendes Triumpfgeheul steigt in die Nacht. Es ist der Schrei eines Wolfes, aber in diesem Geheul liegt etwas so Menschliches, daß er die Hand vom Riegel nimmt und sich von Alice Zinneman ins Wohnzimmer ziehen läßt. Er legt die Arme um sie und drängt sie auf das Sofa, wo sie wie zwei ängstliche Kinder sitzenbleiben.
Das Geschrei der Schweine wird leiser und verstummt. In rauhen, blutig gurgelnden Lauten ersterben die Schreie. Wieder heult die Bestie auf, und ihr Schrei ist so silbern wie der Mond. Eimer tritt an das Fenster und sieht etwas — er weiß nicht was — in der Dunkelheit verschwinden.
Später fängt es an zu regnen, und die Tropfen schlagen gegen die Fenster, während Eimer und Alice bei angeschaltetem Licht in ihrem Schlafzimmer im Bett sitzen. Es ist ein kalter Regen, der erste wirkliche Herbstregen, und morgen wird im Laub das erste Braun erscheinen.
Eimer findet in seinem Schweinestall, was er erwartet hatte: ein Gemetzel. Alle neun Sauen und seine beiden Eber sind tot — aufgeschlitzt und teilweise gefressen. Sie liegen im Schlamm, und der kalte Regen fällt auf ihre Leiber. Ihre hervorquellenden Augen starren in den Herbsthimmel.
Eimers Bruder Pete, der aus Minot herbeigerufen wurde, steht neben ihm. Sie reden lange Zeit kein Wort, und dann sagt Eimer
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